Pierre Pincemaille improvisiert

Pierre Pincemaille: Improvisations aux grandes orgues Cavaillé-Coll de la cathédrale de Saint-Denis (Trésor de l’Orgue francais 7). 1995. Edition Lade EL CD 015 (Postfach 1, A-6932 Langen/Bregenz).

Pierre Pincemaille Improvisations

Anders als bei vielen Musikern ist bei den Organisten das Wissen um die Kunst der Improvisation nie verloren gegangen. Immer mehr Konzertprogramme schließen mit einer Improvisation über gegebene Themen. Selten aber findet man reine Improvisations-Recitals außerhalb von Gottesdiensten. Pierre Pincemaille legt wohl nicht zuletzt deshalb ein Improvisationsprogramm vor, das die Struktur des Gottesdienstes (Messe und Vesper) aufgreift.

Die Tradition der Orgelmesse ging in Frankreich nie unter. In vielen großen Kirchen des Landes, so auch in S. Denis, kann man auch heute allsonntäglich ein Orgelproprium hören, das meist die Teile Entrée, Offertoire, Elévation, Communion und Sortie umfaßt. Während es natürlich viele Kompositionen für diesen Zweck gibt, vertrauen versierte Organisten lieber auf die Improvisation, können sie doch der Liturgie damit eine besonders unmittelbare Deutung beigeben. Nicht nur die Dauer der Musik kann den Handlungen angepaßt werden, auch Lieder Gebete und Schrifttexte, selbst Stimmungen, die sich aus dem Duktus der Feier ableiten, können so in einer wahrhaft homiletisch zu nennenden Art vertieft werden. Im Gegensatz zur Grand Messe improvisée haben die Dix Versets de Veprês ihren liturgischen Sitz im Leben verloren, ist doch auch in Frankreichs Kathedralen gemeindliches Stundengebet nicht mehr üblich. Die Versetten orientieren sich daher auch am Schema der alten Vesperordnung mit fünf Psalmen, Hymnus und Magnifikat. Nichtsdestoweniger dicht sind die durchwegs unter zwei Minuten dauernden kurzen Stücke.

Gerahmt werden die beiden liturgischen Improvisationen von zwei Konzertstücken. Prélude, Ricercar et Noël varié steht in der Tradition der Weihnachtsliedbearbeitungen von Daquin bis Dupré. Grundlage bildet das Lied „Veni, veni Emmanuel“ aus einer Quelle des 15. Jahrhunderts. Bereits das Prélude markiert den symphonischen Stil dieser Improvisation. Anstelle der gewöhnlich am Beginn des Variationssatzes stehenden schlichten Harmonisierung stellt Pincemaille ein Ricercar, das die Choralzeilen eine nach der anderen fugiert verarbeitet. Den Schluß der vorliegenden Einspielung bildet eine Hommage an Pierre Cochereau, die Pierre Pincemaille mit De Pierre … Pierre betitelt. Und wirklich meint man in seiner Musik die Verwandtschaft mit dem großen Titulaire von Notre Dame zu hören. Entgegen vielen Vermutungen war Pincemaille nie Schüler von Cochereau, sondern nur häufiger Besucher „seiner“ Gottesdienste in der Pariser Kathedrale. Die Improvisation endet mit dem Zitat des Bachchorals „Herzlich tut mich verlangen“, mit dem sich Cochereau am 4. April 1994 von seiner Orgel verabschiedete – am Tag darauf verstarb er.

Pincemailles Tonsprache ist gekennzeichnet von einem tonalen Vokabular und einer eindeutigen Syntax. Vollkommene Anpassung an sein Instrument in S.Denis ist zu spüren. Die große Orgel ist ein frühes Werk von Aristide Cavaillé-Coll. Sie entstand 1841 mit 69 Registern auf drei Manualen und Pedal. Es fehlen alle modernen Spielhilfen wie Setzerkombinationen oder elektrisch unterstützte Registertrakturen. Einzig eine Barkermaschine – eine der ersten ihrer Art und daher noch recht unvollkommen – unterstützt die Spieltraktur beim Koppeln der Klaviere. Die Verzögerungen in der Ansprache sind auf der Aufnahme deutlich zu hören.

Günter Lades Verdienst ist es, Schätze der französischen Orgelromantik zugänglich zu machen. Leider hält die Aufnahmequalität dem Vergleich mit professionellen Einspielungen nicht immer stand. Doch wird dies der Hörer, dem quasi ein Live-Erlebnis französischer Orgelkultur im Gottesdienst geboten wird, leicht verschmerzen.


publiziert in:
Deutsche Tagespost 8.11.1997