Orgeln stehen in Kirchen und Konzertsälen, meint man, jedenfalls nicht auf Dachböden oder in Privatwohnungen. Doch gibt es immer wieder Liebhaber, die für ihre Passion Opfer bringen, beispielsweise das gemeinsame Eßzimmer der Familie. So begann Albert Alain 1910 mit dem Bau einer Orgel, die er bis zu seinem Tod 1971 immer wieder veränderte und erweiterte. Das Instrument gehört mit seinen vier Manualen und 46 Registern, die aus gebrauchten Orgelpfeifen oder auch Pappe und Zigarrenkisten entstanden, zu den wohl weltgrößten Hausorgeln. Sie inspirierte Alains Sohn, den 29jährig bei der Verteidigung seiner Heimat gefallenen Jehan Alain, zu seinen Orgelwerken. Nach Alberts Tod wurde die Orgel abgebaut und erst 1991 renoviert und in einem Gebäude der Abteikirche Romainmotier (Schweiz) wieder aufgestellt. Im Dachboden dieses Gemäuers wirkt die Orgel so trocken, wie wohl auch im Alainschen Speisezimmer zu Saint-Germain-en-Laye und offenbart doch auch dort ihren bezaubernden Klang.
In Francks Prelude, Fugue et Variation hört man eine weiche Oboe. Die reichen Zungenstimmen kommen in barocken französischen Noels zur Geltung. In der Toccata von Gigout präsentiert sich die makellose Traktur unter dem virtuosen Spiel von Guy Bovet. Neben Bach (G-Dur Präludium) hört man Werke des Erbauers und seines Sohnes (Litanies), neben Weltliteratur der Orgel auch Liebhaberstückchen, Bearbeitungen und Improvisationen. Der Interpret selbst reiht sich mit einem Noel über „Stille Nacht“ in die Gruppe der Weihnachtsliedbearbeiter ein.
Zusammengewürfelt wie die Orgel präsentiert sich auch das Programm. Doch sind die Werke allesamt nicht ohne Reiz und hervorragend interpretiert. Sie bieten sicher einen guten Querschnitt durch die Musik, die im Hause Alain erklang.
Für Freunde von Orgelmusik abseits ausgetretener Pfade, für Alainkenner und Hausorgelbauer eine echte Perle.
publiziert in:
Deutsche Tagespost 29.6.1996