Armenische Liturgie

Armenian Liturgy. Sofia Armenian Choir, Bedros Papazian. Gega GD 137.

Armenian Liturgy

Unter den Musiktraditionen des Ostens ist die der armenischen Kirche sicher eine der interessantesten und liebenswertesten. Bedingt durch ihre fast die ganze Zeit ihres Bestehens kennzeichnende Diasporasituation hat sie eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit entwickelt.

Die frühesten Musikaufzeichnungen datieren ins 12. Jh. und sind heute nicht mehr zu entziffern. Deutlich ist aber die Übernahme des 8-Ton-Systems aus der byzantinischen Musik. Im 18.Jh. wurde das Notationssystem durch ein neues ersetzt, das bis zur Einführung der Mehrstimmigkeit in Gebrauch war. Begünstigt durch die homophone Begleitung der alten Choralmelodien setzte sich schließlich die westliche Mensuralnotation durch.

Ein einschneidendes Ereignis war die 1896 in Leipzig erfolgte Herausgabe einer Musiksammlung durch den in Echmiadzin geborenen Makar Ekmalian. Was an Begleitung zu den kanonischen Melodien anfänglich improvisiert ausgeführt wurde, zeichnete er auf und entwickelte daraus mehrstimmige Kompositionen. Die Gesänge wirken schlicht und religiös. Die charakteristische Tonfolge a-b-c-des armenischer Kirchenmusik verleiht den Gesängen etwas eigentümlich Schwebendes, das das westeuropäsche Ohr immer wieder fasziniert.

In der vorliegenden Einspielung sind zwölf Stücke aus der Göttlichen Liturgie, bei den Armeniern Patarag genannt, zu hören. Chorstücke, zum Teil alternierend mit besonders stark an byzantinische Musik gemahnenden Priestergesang und solistische Passagen begegnen gleichermaßen. Am faszinierendsten sind wohl die letztgenannten: riesige Bögen spannen die Melismata beispielsweise beim Cherubikon aus. Die einzelne Frauenstimme von der Orgel harmonisch gestützt, zaubert eine Musik aetherischer, engelsgleicher Leichtigkeit.

Auffällig ist die durchgängige, allerdings äußerst zurückhaltende, Verwendung der Orgel. Innerhalb der östlichen kirchenmusikalischen Tradition eine singuläre Erscheinung, die die Inkulturationsbereitschaft spüren läßt. Der armenische Gottesdienst ist, gerade weil er meist fern des Kernlandes gefeiert wird, ein wirklich nationales Identifikationsmoment, durchaus nicht nur eine kultische, sondern eine kulturelle Schöpfung.

Das Beiblatt (engl./frz.) bietet knappe Informationen zur Geschichte der armenischen Kirche, dürftige zur armenischen Musik und keine zur vorliegenden Aufnahme. Technisch ist die Edition des bulgarischen Labels Gega leider alles andere als ausgereift, machen sich doch eine Vielzahl von Schnitten sehr störend bemerkbar. Doch für das Erlebnis dieser außergewöhnlichen Musik sollte man dies Opfer schon bringen.


publiziert in:
Deutsche Tagespost 23.9.1995