Bachkantaten

J. S. Bach: Cantates BWV 180, 49, 115. Schlick, Scholl, Pregardien, Schwarz, Concerto Vocale Leipzig, Ensemble Baroque Limoges, Christophe Coin. Astrée E 8530. 1994.

Bachkantaten Coin

Kirchenmusik ist Verkündigung des Wortes Gottes. Der tiefgläubige Lutheraner Johann Sebastian Bach hat sein Schaffen für die gottesdienstlichen Belange zumal der Hauptkirchen Leipzigs stets als Dienst an dieser Verkündigung gesehen. Welcher Stellenwert der Kantate im evangelischen Gottesdienst dieser Zeit beigelegt wurde, sieht man daran, daß sie neben der Predigt als zweite Säule der Verkündigung galt. Durch die Verbindung von Bibeltexten, zeitgenössischer Dichtung und traditionellen Chorälen nimmt die Kantate selbst schon die Funktionen von Verkündigung, Auslegung und Bekräftigung war.

Bach entwickelte die Kantatenform unter Einbeziehung genuiner Elemente der Oper und der Kirchenmusik über vierzig Jahre hinweg. Von seinen fünf kompletten Jahreszyklen aus der Leipziger Zeit sind uns immerhin noch drei vollständige Reihen erhalten. Sie machen Staunen über die „Produktionsgeschwindigkeit“, mit der für jeden Sonntag eine Kantate komponiert, kopiert, einstudiert und aufgeführt wurde.

Für die vorliegende Aufnahme wurden drei Kantaten zusammengestellt, die als verbindendes Element ein Instrument haben: das Violoncello piccolo. Einen kurzzeitigen Aufschwung erfuhr dieses kleine Violoncello mit einer oberen fünften Saite Anfang des 18. Jahrhunderts. Bach schreibt es ausdrücklich in neun seiner bekannten Kantaten vor, in die es einen warmen und zugleich zarten Klang einbringt.

Zum 20. Sonntag nach Trinitatis entstand die Kantate Schmücke dich, o liebe Seele BWV 180. Es handelt sich um eine Choralkantate nach dem Abendmahlslied von Johann Frank. Am 22. 10. 1724 wurde sie in Leipzig aufgeführt. Trotz der vollen Besetzung mit vier Gesangssolisten und Chor entsteht vor allem durch die Verwendung der Traversflöte in den Ritornellen der Arien eine Art von Tafelmusik, die auf musikalischer Ebene die Beziehung zum heiligen Mahl herstellt. Vielerlei manieristische Elemente werden anschaulich vom Ensemble baroque de Limoges umgesetzt.

Der erfrischend räumliche Klang der Einspielung ist den besonderen Aufnahmeverhältnissen zu verdanken. In Ponitz, an der Grenze zwischen Sachsen und Thüringen gelegen, befindet sich in der Dorfkirche eine Silbermannorgel aus dem Jahre 1737, die die Auswahl des Aufnahmeortes entschied. Um die zentrale Orgel gruppiert sich das Orchester und auf den Emporen zur Linken und Rechten stehen Chor und Solisten. Die für Kantatenaufführungen ungewohnt große Orgel übernimmt den Continuo-Part ebenso wie obligate Aufgaben.

Im Kopfsatz der Kantate Ich geh’ und suche mit Verlangen BWV 49 brilliert Willem Jansen mit dem Silbermannschen Cornett. Die Kantate bezieht sich auf die liturgischen Perikopen des 20.Sonntags nach Trinitatis und wurde am 3. 11. 1726 in Leipzig erstmals aufgeführt. Das Evangelium Mt 22,1–14 beschreibt das himmlische Hochzeitsmahl und die voraufgehende Epistel Eph 5,21–33 überträgt das Bild der Ehe auf die mystische Vereinigung Christi mit der Kirche. Der schwungvolle Kopfsatz wirkt wie eine Einladung der Gäste zum Hochzeitsfest. Der Kantatentext, vermutlich von Picander, deutet mit unverkennbaren Anklängen an das alttestamentliche Hohelied die Schrifttexte auf die Vereinigung der Seele mit Christus. Der dialogischen Struktur des Textes entspricht die Anlage der Sätze (Wechsel zwischen Baß und Sopran). Obwohl Bach auf einen Chor verzichtet, erreicht er durch den instrumentalen Kopf- und den Schlußsatz eine ähnliche Wirkung, webt sich doch am Ende in das glänzende Ritornell der Baßarie Dich hab’ ich je und je geliebet die Sopranstimme mit dem Cantus firmus des mystischen Brautliedes von Philipp Nicolai Wie schön leuchtet der Morgenstern, das in seiner siebten Strophe den Dank für die Begegnung mit Christus im Abendmahl ausdrückt: Wie bin ich nun von Herzen froh, daß mein ist nun das A und O.

Zwei Wochen vor der ersteingespielten wurde die dritte Kantate der vorliegenden Aufnahme aufgeführt. Am 5. 11. 1724 erklang erstmals Mache dich mein Geist bereit BWV 115. Bach schafft zum 22. Sonntag nach Trinitatis eine typische Choralkantate. Der Eingangs- und Schlußchor sind dem gleichnamigen Choral von J. B. Freystein entnommen. Sie rahmen die Arien der Solisten, die ausgehend vom Tagesevangelium, dem Gleichnis vom unerbittlichen Knecht (Mt 18,23–35), mahnen, die Sünde in der Furcht vor dem Gericht zu meiden und den Herrn um Milde anzuflehen.

In die umfängliche Discographie Bachscher Kantaten hat Christophe Coin eine Perle eingefügt. Ein dem Inhalt nach (leider nicht auch der Typographie) vorbildliches Beiheft rundet die Edition des Hauses Astrée ab. Es bietet ausführliche Lebensläufe der Musiker und eine hervorragende Erschließung der Musik durch Gilles Cantargel.


publiziert in:
Deutsche Tagespost 4.11.1995