Im umfangreichen OEvre des wohl bekanntesten brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos (1887–1959) finden sich divergierende Werke, die oft wie aufs Geratewohl geschaffen scheinen. Villa-Lobos schrieb Symphonien, Konzerte, und Kammermusik für außergewöhnliche Besetzungen. Immer aber werden seine Werke in Beziehung zu seinem Heimatland gesetzt; es finden sich ethnische Züge ebenso wie Großzügigkeit in der Anlage und komplizierte Rhythmen.
Die Aufnahmen der vorliegenden CD sind beispielhaft für diese Eigenschaften. Steht die Suite Floral noch in der Tradition von Franck und Chopin und erinnert in ihren sanften Klanggemälden an Debussy, gemahnen die acht naiven Miniaturen Carnaval das Crianças aus den Jahern 1919/20 an Schumanns Kinderszenen, ist die Sonate Rudepoêma von ganz anderer Charakteristik. Bei diesem zwischen 1921 und 1926 entstandenen Meisterwerk handelt es sich um eine ruppige Sonate in einem Satz. Villa-Lobos widmete sie Artur Rubinstein, der sie auch 1927 zur Uraufführung brachte. Reich an indianischen Motiven sind die divergierenden Elemente durch Harmonik und Ornamentik vereinheitlicht. Kennzeichnend auch die häufigen Ostinati. Aus den Bachianas Brasilieras, dem wohl bekanntesten Werk des Komponisten, ist der vierte Abschnitt (für Soloklavier) zu hören. Augenfällig ist der Versuch des Brasilianers, hier an die Neoklassik Europas anzuknüpfen und Zyklen in der Bach-Tradition zu schaffen. Die Verbindung dieser formalen Idee mit der brasilianischen Motivik ist zweifellos als gelungen zu bezeichnen.
Deborah Halász wurde 1965 als Tochter ungarischer Einwanderer in São Paulo geboren. Sie gewann zahlreiche Preise bei internationalen Wettbewerben. Ihrem ausdruckstarken Spiel kommt die bekannt hervorragende Aufnahmetechnik des schwedischen Labels BIS zugute. Obwohl die Musikwissenschaft Villa-Lobos endlich – wenngleich widerwillig – als Genie anerkannt hat, ist seine Musik doch noch immer selten zu hören. Die vorliegende CD vermag daher manchem einen Zugang zu Brasilianischer Musik zu eröffnen.
publiziert in:
Deutsche Tagespost 8.3.1997