Kathedralen für heute

Friedrich Kurrent (Hg.): Kathedrale unserer Zeit, Salzburg: Verlag Anton Pustet 1997, 136 S., zahlr. Fotos und Pläne, ISBN 3-7025-0355-2, 38,50 DM.

Kathedralen unserer Zeit

„Ich sah eine noch ferne Zukunft, wo sich unsere Riesenstädte mit Domen bekrönen, daß in ihnen alles Volk zusammenkommt und die andere, die betende Stadt schafft, und neben ihnen werden die gotischen Dome wie Pfarrkirchen aussehen“, so prophezeite Rudolf Schwarz im Jahre 1957. Diese Vision des Wegweisers des modernen katholischen Kirchenbaus erscheint heute utopischer denn je: Die Zahl der Kirchenbesucher wird immer kleiner, man richtet Werktagskapellen ein, damit sich die kleine Herde nicht aus den Augen verliert. Meist reicht der Chorraum der Kirche für den Gottesdienst der Gemeinde aus. Die weiten mittelalterlichen Räume werden geteilt und verschiedenen Nutzungen zugeführt. Manchmal werden Kirchen ganz aufgegeben und zu Galerien, Ateliers oder Warenhäusern umfunktioniert. Im Osten Deutschlands gehen viele funktionslos gewordene Kirchen zugrunde. Da erscheint es gewagt und regelrecht realitätsfern, angehenden Architekten die Aufgabe zu stellen, Kathedralen zu entwerfen, große Gottesdiensträume für mindestens 2000 Gläubige.

Friedrich Kurrent, auch selbst mit Kirchenbauten hervorgetreten, stellte als Ordinarius für Entwerfen, Raumgestaltung und Sakralbau an der TU München seinem letzten Studentenjahrgang gerade diese Diplomaufgabe. So entstanden 70 Entwürfe, die im Rahmen einer Ausstellung in der Münchener Karmelitenkirche auch der Öffentlichkeit präsentiert wurden und die nun in Buchform vorliegen. „Kathedrale“ meint in diesem Zusammenhang nicht im engen Sinn eine Bischofskirche. Schon der allgemeine Sprachgebrauch bezeichnet große Kirchen – unabhängig davon, ob sich in ihnen eine bischöfliche Kathedra befindet – als Dome. Kurrents Aufgabenstellung erweitert den Begriff abermals: Die Wahl der Religion und die topographische Verortung des Sakralraums überließ er den Studierenden. Abhängig von dieser Vorentscheidung waren die liturgischen/ kultischen Voraussetzungen zu berücksichtigen und eventuell zusätzliche Nebenräume und Einrichtungen vorzusehen. Neben 51 Projekten für die verschiedenen christlichen Konfessionen entstanden so auch 6 islamische, 4 buddhistische und 2 jüdische Sakralraumentwürfe. Hinzu kommen noch 7 Sonderformen von großen Feierräumen.

Kurrent stellt zunächst in einem instruktiven eigenen Beitrag die Genese des modernen Kirchenbaus in Westeuropa dar. Antoni Gaudís 1883 begonnene Sagrada Familia in Barcelona ist wohl als letzte der klassischen Kathedralen zu bezeichnen. Heutiges Bauen kann daran nicht unmittelbar anschließen. Die Entwicklung des Kirchenbaus ist seither – wenn auch zumeist in kleinen Dimensionen – weitergegangen. Gestützt auf neue Materialien und Techniken baut man Räume deren Spritualität und Symbolik kaum kürzer greift als die der antiken und mittelalterlichen Bauwerke. Dennoch schockiert das Neue oftmals, weil die Zeitgenossen den ihnen durch den Künstler wiedergeschenkten ewig gleichen Inhalt hinter der neuen Form nicht erkennen mögen. Kurrents Anliegen ist liturgisches Bauen. Der Architekt könne – so schreibt er – in seiner Raumschöpfung „nicht auf vordergründig Bildhaftes zurückgreifen, sondern er hat einen gestimmten Raum für die Feier der Liturgie zu schaffen.“ Anders als der Irrweg der multifunktionalen Räume der 70er Jahre besinnt man sich heute wieder auf die eindeutige Zuordnung von liturgischen Orten zu ihrer sakramentalen Funktion. Auf evangelischer Seite hatte dieses aus den frühchristlichen Kirchenbauten bekannte Prinzip bereits in den 20er Jahren Otto Bartning propagiert, der in einem Raum die Kanzel als Zentum der „Verkündigungskirche“ und dem Altar als Ort des Abendmahls in einer „Feierkirche“ situierte. Seit dem 2. Vatikanischen Konzil gibt es zwar auch in der römischen Liturgie wieder eine klare Zuordnung an die Funktionsorte Altar, Ambo, Vorstehersitz sowie Sakraments-, Tauf- und Beichtort, doch scheint weder die liturgische Gesetzgebung in allen Punkten ausgereift noch sind die architektonischen Umsetzungen gelungen. Der Volksaltar wirkt vielfach sinnentstellend für alte Räume und der Ambo wird unter Außerachtlassung historischer Vorbilder zum (manchmal gar beweglichen) Lesepult degradiert. Der Ort des Vorstehers erscheint wie ein Sitz zum Ausruhen und der Tabernakel befindet sich oft – vielen Mahnungen der kirchlichen Obrigkeit zum Trotz – noch immer in den Altarräumen. Der Taufort ist an den Rand gedrängt; keine Sonntagsgemeinde kann dem Geschehen in einer kleinen Taufkapelle folgen. Auch die akustischen Gegebenheiten und die Frage der künstlichen Beleuchtung werden heute vielerorts sträflich vernachlässigt. Meist ist es ein Zuviel an Technik oder ihre unsensible Verwendung, was den Raumeindruck zuerstört.

„Dezentrale“ Liturgie kann auch in den entworfenen Räumen der Münchner Studentinnen und Studenten nicht oder nur sehr eingeschränkt gefeiert werden. Auffällig ist, daß alle christlichen Kathedralen (und die beiden Synagogenprojekte) mit Bankreihen ausgestattet sind, während bei den übrigen Projekten die Bewegung im Raum nicht durch Bestuhlung eingeschränkt ist. Gerade Räume, die man heute so groß dimensioniert müssen mit der Realität kleiner Gottesdienstgemeinden rechnen. Freistehende Handlungsbrennpunkte, um die sich die Gemeinde zu Wortgottesdienst, Eucharistie, Taufe, gemeinsamem und privatem Beten schart, läßt den Raum für eine großen ebenso wie für eine kleine Gruppe gefüllt und dicht erscheinen. Ist es bei einer kleinen Gruppe die Prozession die den Raum umgreift, ist es in der Masse die gemeinsame Hinwendung zum zentralen Geschehen. Beides wird durch Kirchenbänke verunmöglicht.

Auffällig ist ferner, daß die meisten entworfenen Kathedralen Zentralbauten sind, betitelt als „Jesus Christus Mitte des Lebens“, ein Rundbau mit zwölf Türmen an einem Alpensee, „Maria“, eine achteckigen Wallfahrtskirche mit zuführenden Kolonnaden und wie in einem Refektorium längs stehenden Altar, eine Dreifaltigkeitskirche für die Spitze der Passauer Landzunge zwischen Inn und Donau oder eine Rundkirche für Taizé geben davon Zeugnis. Auch ein Projekt mit dem Titel „Ringparabel“ ist als dreigeteilter Raum mit gemeinsamem Zentrum entwickelt; er bietet den drei monotheistischen Religionen in Jerusalem einen adäquaten Gebetsraum. Einige Entwürfe setzen sich mit Kirchenruinen auseinander, fügen ihnen die Kathedrale bei oder integrieren die bestehenden Mauern in ihr Konzept; allein zwei Entwürfe stellen Neugestaltungen der Frauenkirche in Dresden vor. Wenige Entwerfer haben es unternommen, Bauten entsprechend der eingangs zitierten Vision von Rudolf Schwarz als „Stadtkrone“ zu konzipieren; monumental ist der Raum im Inneren, seltener seine Wirkung nach außen, Türme fehlen fast vollständig.

Auffällig ist, daß sich mehrere Studenten mit der Planung einer Großmoschee für München auseinandergesetzt haben. Während der wunderschöne Raum für die neue Messestadt Riem durch ein markantes Minarett betont wird, visualisiert ein zweites Projekt den fünfmaligen Gebetsruf des Muezzin diskreter durch eine Wand mit klappbaren Paneelelementen, die gleichzeitig den Raum je gebetszeitabhängig beleuchtet.

Unter den ausgefalleneren Entwürfen sind zu nennen: eine Großsynagoge für Brooklyn, ein buddhistischer Tempel mit Prozessionsweg und einige Bauten, bei denen der Raum zwar unverkennbar sakral, aber dennoch zweckfrei ist: „Kathedralen unserer Zeit“ für die Menschen eines postchristlichen Zeitalters?

Bei den vorgelegten Entwürfen steht selbstverständlich nicht die Realisierung im Vordergrund, sondern es gilt durch Einsatz des architektonischen Vokabulars eine Ideenwelt zu verdeutlichen. Kurrent hat den Studenten eine Aufgabe gestellt, die im Leben wohl nie an die jungen Architektinnen und Architekten herangetragen werden wird, deren Durchbildung aber dazu beitragen kann, „den göttlichen Funken der Phantasie, der in ihnen glimmen soll, zur leuchtenden Flamme anzufachen.“ (Otto Wagner)

Die Entwürfe der Münchner Studierenden sind phantasievoll und visionär. Es ist ein reizvoller Band entstanden, der vielleicht gerade wegen der großen Aufgabe nicht geeignet ist, dem modernen Kirchenbau neue Impulse zu geben, der aber andererseits Spiegel der Tendenzen sakralen Bauens und religiösen Empfindens in der mulikulturellen Gesellschaft unserer Tage ist. Schade nur, daß man ihn nicht oft zur Hand wird nehmen können: Da man sich verlagsseits nicht zu einer Fadenbindung der Broschüre hat entschließen können zerfällt er bereits beim zweiten Aufblättern.


publiziert in:
Deutsche Tagespost 27.12.1997