Nahöstliche Kirchenmusik

Vie de Jésus. Chants de l’Eglise chaldéenne d’Orient en araméen. Warda Yalcin. Alienor 1070.
Chants Chretiens Arameens. Esther Lamandier. Alienor 1034 (Harmonia Mundi France; Vertrieb: Helikon).
X Chants from the Christian Arab Tradition. Vox. Erdenklang 71002. (Ulrich Rützel, In der Habbecke 18, 59889 Eslohe).

Vie de Jesus

Chants chretiens Arameens

Vox X Chants

1998 feierte das Kloster Mor Gabriel im Tur Abdin das 1600-jährige Bestehen. Nur noch wenige hundert aramäische Christen leben heute in dieser von der Ökumene fast vergessenen türkisch-syrischen Grenzregion. Doch haben die Gemeinden dort mit dem Aramäischen als Liturgiesprache einen unvergleichlichen Schatz frühchristlicher Tradition bewahrt. In alttestamentlicher Zeit war Aramäisch zeitweilig die verbreitetste Verkehrssprache im Nahen Osten. Die Pharaonen und die Hetiterkönige korrespondierten auf Aramäisch und die Israeliten brachten die Sprache aus dem Babylonischen Exil mit. Noch zur Zeit Jesu wurde in Palästina mehr aramäisch als hebräisch gesprochen.

Die Musik der ostsyrischen Christen greift auf überkommene und auf populäre Traditionen zurück. Kennzeichnend für die liturgischen Gesänge ist der monodische Charakter in ruhiger Bewegung und freiem Rhythmus. Strukturell sind sie damit sowohl mit der jüdischen religiösen Musik wie mit dem gregorianischen Choral verwandt, was eindrucksvoll die Vergleichbarkeit religiösen Empfindens verschiedener Kulturen dokumentiert. Das liturgische Musiksystem teilt sich in zwei verschiedene Bereiche: einem syllabischen für den Vortrag von Lesungen, Gebeten und Responsorien und einem melismatischen für Hymnen und anderen Texte in ähnlicher Funktion. In der syrischen Kirchenmusik gibt es keine Notenschrift; alle Melodien sind ihrem Grundgerüst nach mündlich überliefert und werden vom Sänger in der jeweiligen Situation verziert, was den typisch orientalischen Klangeindruck hervorruft. Die Atmosphäre des Gottesdienstes ist damit abhängig von der Prägung durch den einzelnen Menschen vor Gott; die Musik wird zum Ereignis. Der melancholische Eindruck, den diese Musik beim westlichen Hörer hinterläßt und der auf bestimmte Intervallverbindungen zurückzuführen ist, wird im Osten anders wahrgenommen und sollte daher auch nicht zu Rückschlüssen auf den Charakter der Spiritualität Anlaß geben.

Die hymnischen Texte gehen oftmals zurück auf Ephräm den Syrer, einem der größten christlichen Hymnographen aus dem 4. Jahrhundert. Themen der Aufnahme sind Hymnen und Gebete und Texte der Liturgie. Warda Yalcin – er ist 1985 aus seiner türkischen Heimat nach Frankreich ausgewandert – hat auf seiner CD auch die Melodie zu einer großen Marienklage improvisiert. Bereichernd tritt bei einer Nummer die Stimme von Esther Lamandier hinzu, von der bereits 1989 beim gleichen Label eine CD erschienen war. Frauenchöre sind in der syrischen Kirche sehr beliebt und wurden von namhaften Theologen (z.B. Paul von Samosata) gefördert. Ein offizielles Verbot im späten 4. Jh. deutet darauf hin, daß es sich nicht nur um Einzelfälle der Tradition handelt. Vielerorts werden die Gesänge antiphonal von der ganzen Gemeinde gesungen.

Auch wenn man nur des mystisch-orientalischen Klangeindrucks wegen zu der technisch einwandfreien Aufnahme greift: Sie stellt ein wichtiges Dokument liturgischen Lebens dieser seit 1522 mit Rom unierten Kirche dar. Im vergleichsweise spröden Beiheft werden einzelne Texte in Umschrift und französischer Übersetzung geboten; Informationen finden sich in Französisch und Englisch.

Einen leichteren Zugang zu arabisch-christlicher Musik für Hörer unserer Zeit bietet ein Projekt der Gruppe Vox, die auf ihrer neuen CD syrischen Frauengesang – technisch etwas aufbereitet – mit einer „surrealen Klanglandschaft konfrontiert“. Das Beiheft ist ansprechend gestaltet, bietet alle Texte in deutscher und englischer Übersetzung und stellt auch einen Bezug zu ihrem ursprünglichen liturgischen Zusammenhang her. Auch wenn die Mischung archaisch-orientalischer und elektronischer Klänge auf der „Hildegard-von-Bingen-Welle“ manchmal etwas gewollt wirken mag, ist doch der Gesamteindruck überaus positiv. Die Aufnahme hätte trotz aller berechtigter Eklektizismus-Vorwürfe das Zeug zu einer „Kult-CD“.


publiziert in:
Deutsche Tagespost 2.5.1998