Louis Vierne (1870–1937) ist sicher der brillianteste Vertreter der französischen Organistengeneration, die die Orgel dem romantischen Musikempfinden zugänglich gemacht haben. Erreicht wurde das nicht zuletzt aber auch durch den genialen Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll, dessen Konzept der Hinzufügung von Registergruppen durch Fußtritte relativ leicht dynamische Abstufungen ermöglichte. Die Große Orgel der Abteikirche in Rouen ist sein letztes Meisterwerk. Sie wurde am 17.April 1890 von Charles-Marie Widor eingeweiht, der über der Erbauer äußerte, es gebe in Europa nur einen einzigen Orgelbauer, der ein großer Künstler sei. An den Stil Widors als des „Erfinders“ der Gattung der Orgelsymphonie erinnert Viernes erste Symphonie noch stark. Doch ist das fünfsätzige Schema mit dem zentralen Scherzo in seinen sechs Symphonien enthalten. Vierne wagte es in der Tat als erster, die typisch orchestrale Form des Scherzo auf die Orgel zu übertragen und sie auch mit der Spritzigkeit, ja Ironie umzusetzen. Bis ins Expressive gesteigert leben Viernes Scherzi von scharfer Rhythmik, konsequentem Staccato und hohen Registern. In den abschließenden Symphoniesätzen – der der ersten gemahnt wiederum an die berühmte Toccata aus der fünften Widorsymphonie, ist aber deutlich komplexer – führt der Organist sich selbst und seine Orgel vor. Beide sind konstitutiv für die Qualität dieser Einspielung: die Großartigkeit des Instruments mit seinem monumentalen Pedal und den strahlenden Chamaden, die technische Überlegenheit und hervorragende Gestaltungskraft des jungen Organisten Yves Castagnet. Geteilter Meinung kann man über den enormen Raumklang sein, den die Tonmeister (hier wie bei allen Aufnahmen der Reihe „Organa Viventia“) eingefangen haben: Was an Gravität gewonnen wird, wird an Kontur vertan. Ein instruktives Beiheft mit vollständiger Disposition rundet die Edition ab, der Fortsetzungen im Bereich der französischen Romantik zu wünschen sind.
publiziert in:
Deutsche Tagespost 24.2.1996