Wollte man die Kunst Andre Jolivets mit einem einzigen Wort beschreiben, würde die Wahl auf Zauber fallen. Was wir hier erleben, ist eine Musik der Beschwörung, der natürlichen Ehrfurcht, der instinktiven Wurzeln religiöser Anschauung. Hier liegt der Berührungspunkt, aber auch der entscheidende Unterschied des 1905 geborenen Jolivet zu dem drei Jahre jüngeren Olivier Messiaen, wie er Mitglied der „La Jeune France“. Zeigt sich bei diesem das Religiöse in seiner Verwurzelung im katholischen Glauben, bringt Jolivet ein religiöses Denken zur Sprache, das weiter greift.
So ist beispielsweise seine Suite Liturgique von 1942 nicht als Vertonung oder Ausdeutung von Salve Regina, Magnificat oder Benedictus (so einige Satztitel) zu verstehen. Vielmehr nähert sich die Musik dem Wort voller Ehrfurcht, verehrt es gleichsam wie eine Ikone. Die Hymnen werden mehr kantilliert, denn gesungen und die Instrumente des Kammermusikensembles eröffnen überraschende Horizonte. Auch die fünf Jahre zuvor entstandenen Poems pour l’Enfant sind durchaus keine Kinderstücke. Jolivet schrieb die Texte hierfür unter dem Eindruck der Geburt seines Sohnes. Auch hier spürt man ein rituelles, kultisches Moment der Musik, vergleichbar einem Sacre du Printemps von Stawinsky. Chant de Linos (1944), der Form nach ein Konzert für Flöte, Streichtrio und Harfe, basiert auf einem griechischen Klagegesang und bringt Augenblicke kontemplativer Trauer ebenso zur Sprache wie das wilde Auflehnen. Pastorales de Noel (1943) schließlich ist ein schlichtes Trio für Flöte Fagott und Harfe.
Das junge englische Ensemble, das diese zauberhafte Musik eingespielt hat ist ebenso wie das mutige Label ASV zu dieser Einspielung zu beglückwünschen.
publiziert in:
Deutsche Tagespost 8.6.1996