Pronominaritis

Betonungen beim Vorlesen

Bischöfe sind infiziert, Priester und Diakone leiden daran und unter Lektoren ist es eine regelrechte Seuche. Man könnte gar von einer Volkskrankheit sprechen, denn das Leiden ist keineswegs nur auf den kirchlichen Bereich beschränkt. Der pathologische Befund: beim Vorlesen werden Pronomina und Verneinungen statt wirklich sinntragender Wörter betont.

Eine typische Gottesdienstgemeinde spricht beispielsweise: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe.“ Wieviel mehr sprachliche Bilder gehen auf, wenn die Betonung nicht um das Du kreist, sondern den Namen, das Reich, den Willen Gottes in den Blick nimmt, also zu hören ist: „geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe.“

Die typische Schutzbehauptung der von der Pronominaritis Befallenen lautet, es solle doch gerade sein Wille geschehen, sein Reich kommen, sein Name geheiligt werden, und nicht der eines anderen. Doch von einem anderen ist im Vaterunser nicht die Rede, angesprochen ist der Vater im Himmel. Es geht um keinen Alternativvorschlag, dieses oder jenes Reich, diesen oder jenen Willen zu wählen, sondern es werden Bitten verschiedenen Inhalts vor den einen Adressaten getragen. Betont werden müssen also die verschiedenen Bitten nicht der immer gleiche Adressat.

Ähnliches wie für die Pronomina gilt für Verneinungen. Sie werden oft sprachlich mit einem roten Rand versehen wie ein Verbotsschild am Straßenrand. Anders als bei diesem geht aber beim Hören das Piktogramm im Innern dieses roten Rahmens verloren: „Ich entziehe ihm nicht meine Huld, breche ihm nicht die Treue.“ Wenn die Betonung jedes Mal auf nicht liegt, werden Huld und Treue schnell verschluckt und überhört. Doch dies sind die inhaltlich tragenden Begriffe, die Verneinung ergibt sich meist bereits aus dem Kontext. Korrekt wäre daher: „Ich entziehe ihm nicht meine Huld, breche ihm nicht die Treue.“ Die Beispiele ließen sich tausendfach fortsetzen.

Interessanterweise tritt das Krankheitsbild der Pronominaritis nur beim (feierlichen) Vorlesen auf. In freier Rede setzen die Infizierten die Schwerpunkte ihres Sprechens meist ganz organisch und dem Sinn gemäß. Ein Therapievorschlag aus fünfzehn Jahren Erfahrung in der Lektorenausbildung? Da die Krankheitserreger im Verborgenen schlummern und nahezu aus dem Unbewussten heraus die Herrschaft über die Betonung des vorzulesenden Textes ergreifen, reicht es oft schon, die Pronomina- und Verneinungsbetonung bewusst zu machen, um einen Prozess des Umdenkens anzustoßen. Flankierende Maßnahme muss dann jedoch das Vorbereiten des Textes sein: die wirklich sinntragenden Wörter einer jeden Sprechzeile müssen markiert und der Text anhand dieser Markierungen laut geübt werden.

Außer für Lektoren lohnt es sich auch für alle anderen Sprecher im Gottesdienst, die eigene Praxis etwa bei Orationen oder beim Hochgebet zu überprüfen. Verschiebungen der gewohnten Betonung führen zu neuen Höreindrücken und lassen Inhalte oft in ganz neuem Licht erscheinen.


publiziert in:
Gottesdienst 50 (2016) S. 66