Die Harfen an den Bäumen
Als die deutsche Popgruppe Boney M. mit By the rivers of Babylon 1978 die Charts – oder Hitparaden, wie man damals sagte – im Sturm eroberte, erschloss sich vielen Hörern die Textquelle nicht auf Anhieb. Die alttestamentlichen Psalmen standen (vor allem im katholischen Milieu) nicht im Vordergrund des biblischen Wissens. Und doch haben Christen die aus der jüdischen Tradition ererbten Lieder von Anbeginn an gesungen, sich damit in eine weit ältere Gebetstradition gestellt und versucht, ihre Erfahrungen mit Jesus Christus durch die Worte der Psalmen zu deuten..
In der Tradition solcher Psalmlieder steht das vorliegende Wir an Babels fremden Ufern. Es folgt dem Text des 137. Psalms:
1 An den Strömen von Babel,
da saßen wir und weinten,
wenn wir an Zion dachten.
2 Wir hängten unsere Harfen
an die Weiden in jenem Land.
3 Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder,
unsere Peiniger forderten Jubel:
«Singt uns Lieder vom Zion!»
4 Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn,
fern, auf fremder Erde?
5 Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem,
dann soll mir die rechte Hand verdorren.
Rache und Kreuz
Die erste Strophe des Liedes lässt nach der ersten Zeile, die der ersten Psalmzeile entspricht, bereits wie eine Ouvertüre etliche Themen der folgenden Verse anklingen (Heimatferne, Instrumente). Strophe zwei bis vier gehen dann fast Zeile für Zeile am Psalmtext entlang. Einzig Vers 6, der das Thema des vorangehenden Verses verdoppelt, wird ausgelassen. Dann aber geschieht eine entscheidende Wendung.
Gequält vom Erlebnis der Zerstörung Jerusalems und dem Leid des Exils an den Flüssen Babels lässt der Psalmist seinen Rachephantasien freien Lauf:
7 Herr, vergiß den Söhnen Edoms nicht den Tag von Jerusalem;
sie sagten: «Reißt nieder, bis auf den Grund reißt es nieder!»
8 Tochter Babel, du Zerstörerin!
Wohl dem, der dir heimzahlt, was du uns getan hast!
9 Wohl dem, der deine Kinder packt
und sie am Felsen zerschmettert!
Die Zeilen stehen unter der Anrufung „Herr“ in Vers 7 und sind damit als Hoffnung darauf zu lesen, dass Gott die Gerechtigkeit wieder herstellen wird. Aus der menschlichen Sicht des Dichters geht das nur durch Gewalt, aber er fordert nicht dazu auf und entschließt sich auch nicht selbst dazu, gewalttätig zu werden. Rachebedürfnis und eigene Aggression werden dennoch nicht unterdrückt, sondern im Gebet Gott anvertraut. Gott wird wissen, was er damit macht. In dieser Linie liegt die christliche Schlussstrophe im Psalmlied: Gott hat sich in seinem Sohn Jesus in das menschliche Gewaltparadigma hineinbegeben und es im Kreuz ad absurdum geführt: Nie wird menschliche Gewalttätigkeit Gerechtigkeit herstellen! Aus Tyrannei und Sklaverei führen nur das Vertrauen und die Hoffnung auf Gott; in christlicher Perspektive liegt diese Hoffnung in Jesu Kreuz und Auferstehung.
Lied und Liturgie
Diethard Zils hat für dieses Lied die englische Übersetzung einer lettischen Vorlage ins Deutsche übertragen. Der Erinnerung des Dominikanerpaters nach geschah dies etwa 1970. Erstmals erschien das Lied 1992 in *Oekumene heute (Mein Liederbuch 2) zusammen mit anderen Texten von Zils.
Für Musiker spielte der 137. Psalm zu aller Zeit eine besondere Rolle, weil er wie kein Zweiter Singen mit Klage verbindet. Zahlreiche Kompositionen greifen auf den Text zurück. Demgegenüber begegnet der Psalm in Stundengebet und Messe der römischen Liturgie eher selten. Zu fragen ist also nach dem Sitz im Leben eines solchen Liedes. Zunächst eignet es sich für alle Gelegenheiten, in denen Jesu Kreuz und Auferstehung als Befreiung von Unterdrückung aufgerufen wird. Der Spannungsbogen Heimat – Fremde lässt sich aber auf ganz unterschiedliche Weise interpretieren: als realer Heimatverlust des Flüchtlings beispielsweise, als Selbstentfremdung oder als Sehnsucht nach der ewigen Heimat. So lassen sich zahlreiche weitere Einsatzmöglichkeiten finden – bis hin zu Trauergottesdiensten.
Die Rubrik Bitte und Klage ist neu im Gesangbuch. Eine realistischere Sicht auf die Bedürfnisse der Gottesdienstbesucher mag dafür Pate gestanden haben. Gottesdienst ist nicht nur Lobpreis und Dank, sondern auch Bitte und Klage. Wer klagt, dem hat es die Sprache verschlagen. Wer dennoch singt, dessen Melodien klingen anders. Wer von betrübten Menschen ein fröhliches Lied fordert, verlangt Unmögliches. Das Lied kann Gefühle zur Sprache bringen, die sonst in der Einsamkeit eines zerschlagenen Herzens verschlossen blieben.
publiziert in:
Die Lieder des Gotteslob. Geschichte–Liturgie–Kultur, Stuttgart 2017