Zu dir, o Gott, erheben wir

Liedporträt

Mottolied der Liturgie

Ad te levavi animam meam. Mit diesen Worten beginnt der Introitus des ersten Adventssonntags. Zu dir erhebe ich meine Seele ist also der erste Text im Kirchenjahr und damit des Messbuchs insgesamt – in alten Missalien oft mit reich verzierter Initiale versehen. Der Vers aus Psalm 25 steht wie ein Motto über der gesamten liturgischen Handlung der Messfeier. Denn nichts anderes will Gottesdienst, als die Seele erheben: Sursum corda heißt es im Zentrum jeder Eucharistie.

Auf diese ersten Verse von Psalm 25 griff Heinrich Bone zurück, als er für sein 1851 in zweiter, erweiterter Auflage erschienenes Gesangbuch *Cantate ein Lied Zum Eingang schuf. Der zehnzeilige Text lautet:

Zu dir, o Gott, erheben wir
Die Seele mit Vertrauen!
Dein Volk erfreuet sich in dir,
Wollst gnädig niederschauen!
Laß leuchten, Herr, dein Angesicht,
Erfüll‘ mit deiner Gnade Licht
Die Diener deines Thrones.
Mach unser Herz von Sünden rein,
Damit wir treten würdig ein
Zum Opfer deines Sohnes.

 

Hundert Jahre Umgestaltung (1877–1975)

1851 veröffentlichte Heinrich Bone den Text des Liedes in der zweiten Auflage seines Gesangbuchs *Cantate als Eröffnungsgesang zur heiligen Messe. Er ist aus Psalm 25,1-2a entwickelt und umfasst insgesamt 10 Verse. 1877 verband ihn Joseph Mohr in seinem Gesangbuch *Jubilate Deo mit der Melodie des Psalmliedes 42 (43) Judica me aus dem *Liedpsalter Kaspar Ulenbergs von 1582. Um den zehnzeiligen Text und die siebenzeilige Melodie in Einklang zu bringen, verschmolz Mohr beide zu einem Lied mit zwei Strophen zu je sieben Versen. Für die zweite Strophe griff er auf Motive aus Psalm 42 (43) zurück, der bereits von Ulenberg dieser Melodie unterlegt worden war. Ein Psalm, der in der alten Messordnung als Stufengebet die Liturgie eröffnete.

2. Zu dir, o Gott, erheben wir
Die Seele mit Vertrauen.
Dein Volk erfreuet sich in dir;
Woll’st gnädig niederschauen:
Mach unser Herz von Sünden rein,
Damit wir würdig treten ein
Zum Opfer deines Sohnes.

3. Dein Licht und Deine Wahrheit rein
Send aus, uns zu geleiten
Zum heiligen Gezelte dein,
O Herr der Ewigkeiten!
Dann nahn wir froh uns dem Altar
Und bringen Dankesopfer dar
Dir unserm Herrn und Gotte.

Mohrs Fassung fand zunächst weite Verbreitung in den Diözesangesangbüchern. Sie wurde jedoch durch die von der Sammlung *Kirchenlied 1938 restituierte Bone-Fassung verdrängt, die sich seit 1947 als offizielles *Einheitslied überall durchsetzte. Damit stellte sich freilich erneut das Problem der Inkongruenz von Text und Melodie. Es fand mit der Wiederholung der zweiten Melodiehälfte nur eine unbefriedigende, beim Singen irritierende Lösung. Die *Vorauspublikation zum Gotteslob strich daher 1972 die letzten drei Verse Bones. Dem nun als zu kurz empfundenen Lied fügten *Vorauspublikation und *Gotteslob 1975 eine neue zweite Strophe an. Die AÖL hat diese Version unter die ö-Lieder aufgenommen.

Der Text der ersten Strophe sieht sich nach der Weglassung der drei letzten Zeilen zu einer neuen Schlusszeile genötigt. Auf Erfüll uns mit der Gnade Licht folgt nun und schenk uns dein Erbarmen. Die zweite Strophe ist eine Neuschöpfung für die *Vorauspublikation zum Einheitsgesangbuch 1972. In ihren ersten beiden Zeilen greift sie – analog zur 1. Strophe – die folgenden Verse 4 und 5 des 25. Psalms auf, eröffnet danach einen Ausblick auf den Verkündigungsteil der Messe (Ganz nahe lass dein Wort uns sein…) und schließt wie Strophe 1 mit der Bitte um Erbarmen.

Die Ulenbergsche Melodie wurde nicht nur hinsichtlich ihrer sieben Zeilen, sondern auch ihrer rhythmischen Vielgestaltigkeit restauriert. So wurden die Dehnungen am Ende der ersten und zu Beginn der letzten Zeile wiederhergestellt, auch „um die Textaussage zu profilieren“, wie der *Redaktionsbericht vermerkt. Das Lied wurde aus *GL 1 unverändert in *GL 2 übernommen.

 

Alles Betens Anbeginn

Das Lied beginnt mit einem ganz ursprünglichen Gebetswort. Das Erheben der Hände – eine Ur-Geste betender Menschen – setzt ins Bild, was der Psalmist als Ur-Gebet ausspricht Zu dir, o Herr, erhebe ich meine Seele. Gebet heißt, sich nach Gott auszustrecken. Und dieses Hinwenden zu ihm findet seine Entsprechung in der Zuwendung Gottes: Sein Angesicht lässt er über uns leuchten und erfüllt uns mit seiner Gnade. Diese Wechselbewegung beschreibt den Grundvollzug aller Liturgie: Das Geschenk Gottes und die dankbare Antwort des Menschen. Damit umreißt das Lied am Beginn des Gottesdienstes, für den es rubriziert ist, dessen Grundstruktur.

Gleichzeitig lenkt es den Blick auf Gottes Wort, das uns den rechten Weg weisen will und schließt mit einer intensiven Bitte um Erbarmen, die direkt zum nachfolgenden Bußakt und dem Kyrie eleison überleitet. Beide Strophen schließen, wie wenn sie an die Tradition alter Leisen erinnern wollten, mit der Zeile und schenk uns dein Erbarmen.

Das Lied schafft ein Klima von Gottesdienst, das nicht nur am Beginn der Messfeier, sondern bei jeder Eröffnung liturgischer Handlungen stimmig ist. Als Mottolied des gesamten Kirchenjahres kann Zu dir, o Gott, erheben wir besonders zu dessen Beginn am ersten Adventssonntag sinnvoll eingesetzt werden. Denn alles Beten beginnt mit dem Erheben der Seele zu Gott.


publiziert in:
Die Lieder des Gotteslob. Geschichte–Liturgie–Kultur, Stuttgart 2017