Bleibe bei uns, du Wandrer durch die Zeit

Liedporträt

Emmaus

Den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus erschließt Jesus den Sinn der Schrift. Sie bitten ihn, ihr Gast zu sein und erkennen ihn, als er das Brot bricht. Die Emmausgeschichte in Lk 24 ist damit ein Paradigma des christlichen Gottesdienstes. Verkündigung und Brotbrechen bilden die beiden Brennpunkte der Messfeier.

Ein Emmaus-Lied könnte im Stil einer Ballade das Geschehen aus dem Evangelium nacherzählen. Es kann aber auch – wie im vorliegenden Fall – das Erinnerte aktualisieren und damit gleichsam ein „liturgisches“ Lied werden. Dies geschieht zum einen durch Verschränken der verschiedenen Zeitebenen: Die Emmausgeschichte ist die Folie, vor der sich das Geschehen der Eucharistiefeier und der Ausblick in die Endzeit vollziehen. Zum anderen treten die Sänger des Liedes in die Rolle der Jünger ein, die den Herrn anreden und ihn bitten, heute bei ihnen einzukehren.

 

Erlösung

Bleibe bei uns. Schon die ersten drei Worte des Liedes genügen, um die Szenerie von Emmaus zu vergegenwärtigen. Angesprochen ist mit dem Bleibe bei uns der Wandrer durch die Zeit. Der Auferstandene wird damit als wahrer Mensch charakterisiert, der an unserer Seite durchs Leben ging. Gleichzeitig klingt aber auch die überzeitliche, die göttliche Dimension an, das Sich-Entäußern Gottes und der Wiedereintritt in seine Herrlichkeit.

Die zweite Strophe erinnert eingangs an den weiten Weg und die Flucht der Jünger aus Jerusalem. Wieder sind wir es, die flohen fort vom Kreuz. Nicht in heilloser Flucht allerdings, sondern bereits geführt durch den, den wir schon als Verlorenen abgeschrieben hatten. In Wahrheit ist sein Kreuz kein Grund zur Flucht. Es ist vielmehr der Fluchtpunkt, aus dem sich die Koordinaten der neuen Schöpfung ableiten. Wie die erste schließt auch die zweite Strophe mit dem Verweis auf die Messfeier. Im Brotbrechen erfahren wir seine Nähe. Sein Wort entflammt unsere Herzen.

 

Gebet

Ganz ins Gebet schließlich mündet die dritte Strophe, die etwas unvermittelt anhebt mit der Bitte: Weihe uns ganz in dein Geheimnis ein. Versteht man Geheimnis als Sakrament oder Mysterion, die Teilnehmer daran als Mysten, die durch Mitfeier und Mystagogie immer tiefer eingeführt werden in das heilige Geschehen, so wird einmal mehr die Verschränkung von Emmausgeschichte und Eucharistiefeier deutlich. Gleichzeitig richtet die Strophe den Blick auf die Endzeit, wenn wir im letzten Abendschein seine Herrlichkeit erkennen. Abschließend spricht das Lied von der mystischen Vereinigung (wir in dir) im Leben und im Tod. Diese Kommunion Gottes mit dem Menschen ist eine Frucht der Eucharistie.

 

Melodie des Abends

Das Lied wurde auf eine Melodie gedichtet, die als Abendlied Abide with me seit Mitte des 19. Jahrhunderts im anglophonen Sprachraum verbreitet war. Ihrer Beliebtheit sind wohl die zahlreichen Übertragungen und textlichen Neuschöpfungen zu verdanken, die stets das Thema Abend umkreisen. Während *Gotteslob unter Nr. 94 einen Text von Franz-Josef Rahe und Paul Ringseisen bietet, enthält das *EG eine Übertragung des englischen Originals von Theodor Werner. Diese Fassung war dem Dichter von Bleibe bei uns von Jugend an aus dem westfälischen Eigenteil des *EKG vertraut. Peter Gerloff wurde 1957 in Münster geboren. Nach dem Studium der evangelischen Theologie arbeite er als Vikar und Pfarrer in der Gemeindeseelsorge. 1990 konvertierte er zusammen mit seiner Familie zum Katholizismus. Sein Nachdenken über die Eucharistie und die Kirche, nicht etwa eine Ablehnung evangelischer Spiritualität, hatten ihn zu dieser Entscheidung bewogen. Seit 1995 ist Gerloff Priester des Bistums Hildesheim. Aus seinem reichem Liedschaffen haben sechs Titel Eingang in den Stammteil des *Gotteslob gefunden. In den Eigenteilen finden sich acht weitere Lieder. Das vorliegende Lied hatte er für sein Primizbildchen gedichtet. Danach ist es 2002 im Band *zeitgemäß der Reihe ‚Konkrete Liturgie‘ erschienen. Ihr Herausgeber Guido Fuchs hat den Autor zwei Jahre später zu einer Anpassung des Textes für seine Publikation *Den Sonntag eröffnen angeregt. Seitdem haben die Strophen weitere Verbesserungen erfahren, die sie noch schlüssiger in die Emmaus-Erzählung stellen.


publiziert in:
Die Lieder des Gotteslob. Geschichte–Liturgie–Kultur, Stuttgart 2017

19.4.2020