Ist die Kirche der Himmel?
Grenzenlose Bläue. Goldgeränderte Wolken als Sitzplätze. Engel und Heilige mit Harfen und Trompeten. So stellt man sich volkstümlich den Himmel vor. Doch ist dies eine ganz und gar neuzeitliche Sicht. Für Antike und Mittelalter war der Himmel stattdessen Architektur, war gegliederte Stadt, war umbauter Raum. Ganz selbstverständlich greifen daher die Autoren des Ezechielbuches wie der Johannesapokalypse in ihren endzeitlichen Visionen auf das Bild von der Stadt zurück.
Dem Seher von Patmos erscheint sie prächtig geschmückt wie eine Braut, die Tore aus Perlen, die Fundamente aus Edelsteinen. Und ihr goldenes Leuchten rührt nicht etwa von Sonne und Mond, sondern von der Herrlichkeit Gottes und des Lammes selbst. (Offb 21) Das neue Jerusalem ist eine Stadt ohne Nacht. Darum ist ihr auch alles Unreine fremd – Vers 8 zählt auf: Feige, Treulose, Befleckte, Mörder, Unzüchtige, Zauberer, Götzendiener und Lügner –, und nur die, die im Lebensbuch des Lammes eingetragen sind, werden eingelassen (21,27).
Der Himmel als Stadt
Der Text von Silja Walters dreistrophigem Endzeithymnus greift die Bilder aus der Johannesoffenbarung auf, verdichtet sie in ebenfalls biblisch geprägter Sprache und lässt sie in eine Doxologie münden. Wer das Lied singt tritt „in einen Raum voll schwebender Bedeutungen und visionärer Zuschreibungen ein.“ (Henkys, S. 81)
Da ist zunächst die große Stadt, die vor unserem inneren Auge ersteht und vom Himmel niedergeht. Es ist kein Ent-stehen, sondern ein Auf-erstehen, ein sich Erheben, mithin eine Bewegung von unten nach oben. Gleichzeitig geht die Stadt aber vom Himmel nieder. Sie dringt aus dem Bereich der Ewigkeit in die Erdenzeit, gehört also beiden Dimensionen an. Ja sie überformt das Diesseits mit einer neuen Struktur, mit der endzeitlichen Architektur der Gottesherrschaft. Der alte Himmel und die alte Erde vergehen am Ende der Zeit. Alles wird neu, und das himmlische Jerusalem umgreift alle Wirklichkeit. Dass die Mitte dieser Stadt, ihr Licht und ihre Herrlichkeit, Jesus Christus selbst ist, fasst die zweite Hälfte der ersten Strophe ins Wort.
Hebt die erste Strophe eine Vision ins Bild, sprechen die Singenden in der zweiten Strophe die Stadt selbst an. Schon der Psalmist fragt, wer hinaufziehen dürfe zum Berg des Herrn. Und er gibt selbst die Antwort: Der reine Hände hat und ein lauteres Herz, der nicht betrügt und keinen Meineid schwört (Ps 24,3f). Das Gebet Lass uns herein umschließt demnach die Bitte nach Reinheit, nach Rechtfertigung und nach dem Eingeschriebensein im Buch des Lebens. Es zielt weiter darauf ab, nicht nur Gastrecht in der heiligen Stadt zu genießen, sondern als dort gebürtig, als Eingeborener des Himmels zu gelten. Auch hier steht ein Psalm Pate: „Von Zion wird man sagen: Jeder ist dort geboren. Er, der Höchste, hat Zion gegründet. Der Herr schreibt, wenn er die Völker verzeichnet: Er ist dort geboren.“ (Ps 87,5f)
Und noch einen Schritt weiter gehen die Betenden: Sie bitten nicht nur für sich selbst, sondern auch für die anderen, die draußen sind. Auch ihnen ist verheißen, zur Familie Gottes zu gehören, so sie sich nach ihrer ewigen Heimat, nach ihrer Vaterstadt, der Mutter Jerusalem sehnen.
Die dritte Strophe verbindet den trinitarisch-doxologischen Abschluss mit dem Dank für diese hoffnungsfrohe endzeitliche Perspektive. Die Schlusszeilen bringen zudem das Gottesvolk ins Spiel, das – unter dem Kreuz Christi geeint – die eigentliche „Stadt“ als lebendiges Gemeinwesen darstellt: „auferbaut aus lebendigen Steinen“ (1 Petr 2,5).
Die Kirche als Bürgerschaft
Nun findet sich in *Gotteslob 2 erstmals auch eine Rubrik „Die himmlische Stadt“. Doch ist unser Lied nicht dort, sondern vielmehr unter „Kirche – Ökumene“ rubriziert. Auch in früheren Gesangbüchern fand es sich stets in einer vergleichbaren Rubrik. Liegt hier ein hermeneutischer Schlüssel? Ist also mit der Endzeitvision des Sehers von Patmos nicht der Himmel aufgerufen, sondern wird ein Bild von der Kirche gezeichnet? Ist mit dem In-dir-geboren-Sein das Bad der Wiedergeburt der Taufe gemeint? Immerhin werden Kind Gottes, also Tochter und Sohn alle genannt, die in der Taufe von Sünden gereinigt und neu geboren sind. Sie sind „nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (Eph 2,19), sie sind Bürger der heiligen Stadt, die die Kirche ist. Schon Cyprian von Karthago formuliert: „Niemand kann Gott zum Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat.“ [##Zitat nachweisen] Wer aber ist nun die Kirche: die Gotteskinder oder ihre Mutter?
Entstehungsgeschichte als Schlüssel
Tatsächlich wurde das Lied zum Thema Kirche gedichtet. Im Zuge der Vorbereitungen auf ein neues katholisches Kirchengesangbuch der Schweiz – das Konzil war gerade im Gange und die Kirchenkonstitution ‚Lumen gentium‘ bereits greifbar – schuf es die Dichterin Silja Walter (1919–2011), die als Sr. Hedwig im Benediktinerinnenkloster Fahr lebte. Es wurde von den zuständigen Fachgremien dankbar angenommen, aber an einigen Stellen geändert. In der Erstfassung besaß es noch den Refrain: Wollt ihr Gottes Antlitz sehn, lasst uns gehn und auferstehn in der Kirche, Gottes Stadt. Womit die Dichterin eine eindeutige Identifizierung der Stadt Gottes mit der Kirche bietet. Aber trotz aller absichtsvollen Deutung der biblischen Bilder auf die Kirche, lässt das Lied von der Himmelsstadt auch weitergehende, visionäre und eschatologische Deutungen zu.
Beim Erstdruck im *KKG von 1966 fand sich eine Melodie von Gregor Müller aus Brig. Obwohl im Rahmen eines kleinen Wettbewerbs ausgewählt, setzte sie sich in den Gemeinden nicht durch und wurde 1972 durch eine Neukomposition von Josef Anton Saladin ersetzt, der seinerzeit Präses des Cäcilienverbandes und Mitglied in der Kommission für das Einheitsgesangbuch war. Seine schwungvolle Melodie verzichtet auf den Refrain, zeichnet erkennbar die textliche Gliederung nach und deutet melodisch den Text der ersten Strophe aus.
Das Reimschema A-A-B-C-C-B wird durch den rhythmischen Gleichklang der ersten, zweiten und fünften Melodiezeile unterstrichen. In der vierten erfolgt eine Umstellung der langen Notenwerte an den Anfang, um die Mittelzäsur zu betonen. Auch die Zeilen drei und sechs sind rhythmisch ähnlich gebaut. Es ergibt sich, vereinfacht gesagt, das Schema A-A-B-a-A-b. Während die Textzeile vom Himmel niedergeht in die Erdenzeit durch eine absteigende Linie über fast eine Oktave unterstrichen wird, liegt der Spitzenton des Liedes auf Christus.
In dieser Fassung erschien das Lied 1975 im *Gotteslob 1 und wurde nach begeisterter Rezeption über diesen Umweg 1998 auch ins *Schweizerische Gesangbuch aufgenommen. Auch im Stundenbuch wurde Silja Walters Hymnus abgedruckt: bereits 1970 im *Neuen Stundenbuch – hier noch mit Refrain – sowie 1978 im *Stundenbuch – jetzt in der sechszeiligen Fassung des GL, beide Male in den Tagzeitengebeten zum Kirchweihfest. Eine „Gender-Anpassung“ erfuhr das Lied 1995: Statt Gott heißt jeden Sohn und Kind hieß es seither Gott heißt jeden von uns Kind, bevor 2013 schließlich in Gott heißt Tochter, Sohn und Kind geändert wurde.
Literatur
Jürgen Henkys: Die Stadt, der Himmel und die Erde, in: Zeitschrift der gemeinsamen Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen 18 (2004) 75–85.
publiziert in:
Die Lieder des Gotteslob. Geschichte–Liturgie–Kultur, Stuttgart 2017