„Zu Opas Geburtstag kocht Oma immer seine Lieblingspeise. Dann setzen wir uns ins Wohnzimmer und Opa raucht eine Zigarre. Dann packt Opa seine Geschenke aus. Von Oma bekommt er immer eine Krawatte. Ich habe ein Bild für Opa gemalt. Dann trinken wir Kaffee und es gibt Pflaumenkuchen.“ Alle Jahre der gleiche Ablauf. Schon Kinder spüren, wie Pflaumenkuchen, Krawatte und Zigarre den Geburtstag vom Alltag abheben. Und nicht nur dem Geehrten würde etwas fehlen, müßte er seinen Festtag ohne die Lieblingspeise verbringen. Sie gehört zum Ritual des Tages. Alle Jahre wieder.
Vor mehr als 75 Jahren formulierte Anton Baumstark das „Gesetz der Erhaltung des Alten in liturgisch hochwertiger Zeit“. Der Aufsatz, der unter diesem sperrigen Titel 1927 im Jahrbuch für Liturgiewissenschaft erschien, weist nach, daß sich namentlich an den Tagen zwischen dem Passions- und dem Weißen Sonntag alte Formen gegen liturgische Neuerungen über Jahrhunderte behaupten konnten. Die Fülle der Beispiele, die Baumstark anführt, stammt überwiegend aus dem Offizium, der Karfreitagsliturgie und der Ostervigil. Durch Seitenblicke auf nichtrömische Liturgien erhärtet er seine Beobachtung. Zwar ist durch die letzte Liturgiereform der Großteil der altertümlichen Besonderheiten dieser Tage nivelliert worden, doch findet sich noch immer einiges „Alte“ in unserem Ritus. Besonders augenfällig ist dies am Karfreitag, der letzten Präsanktifikatenliturgie, die dem lateinischen Ritus erhalten geblieben ist. Ihr Rückzug ist sicher mit dem der Großen Fürbitten – ebenfalls liturgisches Urgestein – vergleichbar: Zunächst noch an allen Mittwochen und Freitagen der Fastenzeit üblich, später auf diese beiden Wochentage der Karwoche beschränkt und schließlich nurmehr am Karfreitag zu finden. Ferner ist beispielsweise der schweigende Einzug, die Prostratio, die eröffnende Oration ohne Gebetseinladung am Karfreitag, der Verzicht auf das Credo und die Leuchter beim Evangelium der Osternacht zu nennen.
Was 1927 noch als Konstante formuliert werden konnte, die sich durch die liturgische Entwicklung der Jahrhunderte nachweisen ließ und die man in der Folgezeit „Baumstarksches Gesetz“ nannte, ist heute geradezu ins Gegenteil verkehrt. Zu „liturgisch hochwertigen“ Anlässen ist nichts weniger gefragt als „the same procedure as last year“. Wiederholungen langweilen. Überraschungen werden gewünscht. Gerade die zentrale Feier von Ostern, das Weihnachtsfest, viele „besondere“ Sonntage, aber auch Maiandachten oder Roratemessen, kurz, was sich heraushebt aus dem Jahreskreis, wird einer besonderen Gestaltung unterworfen. Nur ausnahmsweise – so scheint es – suchen Liturgiekreise, Kirchenmusiker, Priester gemeinsam die (im Meßbuch und der Leseordnung ja bereits gestaltete) Liturgie zu verstehen und zu durchdringen, um sie authenischer feiern zu können. Häufiger schon scheinen die Liturgiegestalter zu überlegen, wie sie das (nicht selten dezidiert außerliturgische) „Thema des Gottesdienstes“ am besten „rüberbringen“ und planen hierzu Besonderes, Überraschendes, So-noch-nie-Dagewesenes.
Das kann dann schon dazu führen, daß am Palmsonntag anstelle der Passion das Evangelium vom Einzug nach Jerusalem zu hören ist, weil das Leidensthema ja nicht zum Palmsonntag paßt, daß am Karfreitag die Kommunionfeier als ein „überflüssiges Anhängsel“ weggelassen wird, daß die Osternachtsfeier umgestellt wird, um mit Lichtfeier, Gloria und Halleluja nach dem Wortgottesdienst „Auferstehung“ glanzvoll zu inszenieren. Solche experimentellen Mißgriffe sind sicher die Ausnahme, aber gleichwohl Realität! Verbreiteter ist daneben der willkürliche Austausch (sperriger) Perikopen, nicht selten durch nichtbiblische Texte, weil sie doch vorgeblich so gut zum „Thema des Gottesdienstes“ passen.
Es ist hier nicht der Ort das Wechselspiel von Tradition und Innovation, von Wandel und Reform in der Liturgie zu thematisieren. Doch vielleicht ist eine gesellschaftliche Entwicklung mitursächlich für die spürbare Veränderung einer wie immer gearteten „Ehrfurcht vor dem Alten“. Galt früher das Alte per se als schützens- und verehrungswürdig, legt unsere Zeit das Hauptaugenmerk auf „Jugendlichkeit“. Bestand früher Ehrfurcht darin, das Ererbte unangetastet zu bewahren, zeigt man heute sein Interesse am Überkommenen durch „Manipulation“, durch Hand-Anlegen also. Dadurch soll das unbewußt als bedeutsam empfundene Alte gewissermaßen fit gemacht werden für die heutige Zeit. Wenn dies der Weg ist, das Alte unserer Generation zu „retten“, wer würde dann von mangelnder Ehrfurcht sprechen? Sie zeigt sich nur anders: Man versucht nicht in erster Linie Vorgegebenes zu verstehen, sondern es durch Veränderung verständlich zu machen. Das Eindringen in die Weisheit der Alten ist nicht sosehr gefragt wie das Benutzen passender Elemente aus der Geschichte zur Deutung unserer Zeit. Ein konsumorientierter Eklektizismus also, der – wie allgemein auf dem Gebiet des Religiösen – auch in der realen Gestalt katholischer Liturgie um sich greift.
Man fragt heute, wie es ankommt,
nicht worauf es ankommt.
(Hans Hollerweger)
Unzweifelhaft dürfte sein, daß Rituale den Lebensrhythmus zu stützen vermögen. Durch regelmäßige Wiederholung an Höhepunkten des Jahres sedimentieren Erinnerungen, verdichten sich Erfahrungen und können immer wieder leicht abgerufen werden. So wie Zigarrenrauch und Pflaumenkuchen Opas Geburtstag markieren, hält auch das Kirchenjahr sinnliche Marksteine bereit, die gerade durch Regelmäßigkeit und einem hohen Maß an Unveränderlichkeit wirken.
Anders als zu Baumstarks (von Rubrizistik geprägten) Zeiten zeigt sich in der heutigen gottesdienstlichen Praxis, daß die „reine“ liturgische Form am ehesten dann zum Tragen kommt, wenn niemand zu gestalten versucht, sondern man die bereits gestaltete Liturgie des Meßbuchs feiert. Ohne Aufwand an Originalität. In aller Schlichtheit und Schönheit. Dies geschieht heutzutage zumeist in einer Werktagsmesse, in „liturgisch minderwertiger Zeit“ also. Das Baumstarksche Gesetz erfährt in unseren Tagen gewissermaßen eine Umkehrung. In solchen Gottesdiensten, in denen alle Beteiligten die Regeln mehr oder weniger kennen, wo „regelgemäß“ und „regelmäßig“ gefeiert wird, ist tätige Teilnahme möglich. Da gestalten nicht wenige „Macher“ für viele „Konsumenten“. Hier sind alle miteinander Zelebranten. Aktionen müssen nicht zuvor erklärt werden, alle wissen, was sie erwartet und können daher ohne nachzudenken mit großer Selbstverständlichkeit einstimmen in die Gebete und Gesänge, mit ihrer Stimme, mit Gesten oder im Herzen. Und das ist nicht etwa langweilig, sondern das Wesen eines Ritus, der an Vergangenes erinnert und Erwartetes in den Blick nimmt und damit zutiefst dem Menschen von heute nützt.
publiziert in:
Gottesdienst 39 (2005) S. 37