Erbarme dich, erbarm dich mein

Liedporträt

Bußklang

Als Caspar Ulenberg die Choralmelodie für die Bußpsalmen seines Reimpsalters (*Köln 1582) komponierte, griff er nicht von ungefähr auf den hypophrygischen Modus zurück. Dieser galt als „sehr traurig“, er beschreibe „wehmütiges Flehen“ (Nachweise bei Jansen S. 88). Das sechszeilige Modell wies Ulenberg den Bußpsalmen 6, 37, 50, 101, 129, 142 zu (Vulgata-Zählung, Psalm 50 ist nach Zählung der Einheitsübersetzung Psalm 51).

Eine Traditionslinie dieser Choralweise führt über mehr als vierhundert Jahre bis ins *Gotteslob. Die Worte des 51. Psalms waren der Melodie in verschiedenen Fassungen unterlegt worden. Ulenbergs fünfzehnstrophige Bereimung Got sei mir gnedig dieser zeit hielt sich bis Mitte des 18. Jahrhunderts in etlichen katholischen Gesangbüchern. Mitte des 19. Jahrhunderts reimte Heinrich *Bone mit Barmherz’ger Gott, erbarme dich ein sechsstrophiges Lied auf Psalm 51 und verknüpfte es mit der Melodie Ulenbergs. Anders als Bones Text, der ein Jahrhundert lang tradiert wird, verliert sich die Spur der Melodie in der Folgezeit recht schnell. Es ist das Verdienst Adolf Lohmanns, sie wieder entdeckt zu haben. In seinem 1962 erschienenen Büchlein *33 Psalmlieder bringt er sie zu Psalm 6 und merkt an, dass Ulenberg sie auch den übrigen Bußpsalmen zugewiesen habe.

Bei der Arbeit am *Gotteslob 1975 entschied man sich ausdrücklich gegen das Psalmlied Ulenbergs „wegen seiner Länge und seiner archaischen Sprache“. Stattdessen regte man eine Neubereimung dieses wichtigen Psalms an. Das von Maria Luise Thurmair 1972 vorgelegte Erbarme dich, erbarm dich mein fand umgehend Aufnahme in die Sammlung *Gemeinsame Kirchenlieder und kam von da ins *Gotteslob (1+2).

 

Psychogramm der Umkehr

Vergleicht man Psalm und Lied, so werden Gewinne und Verluste deutlich.

3 Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen!
4 Wasch meine Schuld von mir ab, und mach mich rein von meiner Sünde!
5 Denn ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen.
6 Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir mißfällt. So behältst du recht mit deinem Urteil, rein stehst du da als Richter.

1
Erbarme dich, erbarm dich mein
Herr, durch die große Güte dein.
Mach rein mich bis zum Herzensgrund
Im Innersten mach mich gesund.
Denn meine Sünde brennt in mir,
ja, schuldig ist mein Herz vor dir.

7 Denn ich bin in Schuld geboren; in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.
8 Lauterer Sinn im Verborgenen gefällt dir, im Geheimen lehrst du mich Weisheit.
9 Entsündige mich mit Ysop, dann werde ich rein; wasche mich, dann werde ich weißer als Schnee.
10 Sättige mich mit Entzücken und Freude! Jubeln sollen die Glieder, die du zerschlagen hast.

2
Arm ward ich in die Welt geschickt,
von Anbeginn in Schuld verstrickt.
Ein fremdes, mächtiges Gesetz
Trieb mich dem Bösen in das Netz.
Du weißt, was mich zuinnerst quält.
Vor dir allein hab ich gefehlt.

11 Verbirg dein Gesicht vor meinen Sünden, tilge all meine Frevel!
12 Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist!

3
Herr, schau auf meine Sünde nicht,
wend ab von ihr dein Angesicht.
Ein reines Herz erschaffe mir,
so weiß wie Schnee sei es vor dir.
Berühre mich mit deiner Hand,
die alle Macht des Bösen bannt.

13 Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir!
14 Mach mich wieder froh mit deinem Heil; mit einem willigen Geist rüste mich aus!
15 Dann lehre ich Abtrünnige deine Wege, und die Sünder kehren um zu dir.
16 Befrei mich von Blutschuld, Herr, du Gott meines Heiles, dann wird meine Zunge jubeln über deine Gerechtigkeit.

4
Herr, nimm von mir nicht deinen Geist,
der mich den Weg des Lebens weist,
ihn, der mich treibt zum Guten hin,
zu Großmut und beständgem Sinn.
Befreie mich von Schuld und Not,
dass ich dich rühme, Herr, mein Gott.

17 Herr, öffne mir die Lippen, und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden.

5
Ja, öffne mir den stummen Mund;
dann tu ich allen Menschen kund,
was Großes du an mir getan,
wie du mich nahmst in Gnaden an,
dass, wer dir fern ist, sich bekehrt
und so in dir auch Heil erfährt.

18 Schlachtopfer willst du nicht, ich würde sie dir geben; an Brandopfern hast du kein Gefallen.
19 Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen.
20 In deiner Huld tu Gutes an Zion; bau die Mauern Jerusalems wieder auf!
21 Dann hast du Freude an rechten Opfern, / an Brandopfern und Ganzopfern, dann opfert man Stiere auf deinem Altar.

6
Nimm an, was ich zum Opfer bring:
Das Herz, zerschlagen und gering,
den Geist, der seine Ohnmacht kennt
und dich den Herrn, den Höchsten nennt.
Dann will ich deiner Güt und Ehr
In Ewigkeit lobsingen, Herr.

Der hebräische Psalm bietet in der Überschrift einen Hinweis auf den ursprünglichen Sitz im Leben. David habe ihn gesprochen, „als der Prophet Natan zu ihm kam, nachdem sich David mit Batseba vergangen hatte“. Die Überschrift spielt auf eine brisante Szene an (2 Sam 11). Die Schuldeinsicht, die der Psalm zum Ausdruck bringt, ist eine uralte Menschheitserfahrung. Das Lied bildet in den ersten vier Strophen das Flehen um Erbarmen, den Wunsch nach Reinigung und den Willen zur Umkehr ab. Der Sänger ist zerrissen von Herzweh und Seelenqual, Hilflosigkeit, Schuldbewusstsein und Besserungsvorsatz. Ein Lobpreis schließt Lied und Psalm ab.

Im Unterschied zum Psalm entlässt Maria Luise Thurmair König David aus dem Blickfeld. Sie verallgemeinert, modernisiert und psychologisiert das Lied. „Schlachtopfer“ kommen nicht mehr vor, dafür sehr heutig klingende Sätze wie Du weißt, was mich zuinnerst quält. Ihre Liedfassung „folgt nicht sklavisch dem Gedankengang des Psalms, sondern nimmt seine Bitten und Bilder in freier Weise und in teilweise anderer Verknüpfung auf“ (Thurmair im *Werkbuch). Dadurch geht manches verloren, auch an poetischer Kraft. Der Psalm nennt in den ersten sieben Versen die Sünde siebenmal (im hebräischen sogar mit sieben verschiedenen Begriffen; die deutsche Übersetzung hat mit „Frevel, Schuld, Sünde, böse Taten“ immerhin vier verschiedene) als Symbol der überbordenden Fülle – die Sünden des Menschen sind nicht zu zählen. Dagegen wird in den Versen 12-14 die Bitte um den „Geist“ gesetzt, und zwar genau dreimal als Symbol der Vollkommenheit – der Beistand Gottes überwindet die Fülle der Sünden. Diese ‚zweite‘ Sinnebene des Psalms konnte Thurmair nur schwer in ihre Liedfassung übernehmen.

Auffällig ist, dass sie auch das zweimalige Bild vom Abwaschen der Schuld (Ps 51,4.9) nicht aufgreift, obwohl es innerhalb der Liturgie eine große Rolle spielt. So bildet Vers 4 das Stillgebet des Priesters zur Händewaschung nach der Gabenbereitung. Vers 9 (lateinisch „asperges me“) erklingt als Begleitgesang zum sonntäglichen Asperges, das von diesem Vers seinen Namen erhielt. Vers 7 ich bin in Schuld geboren; in Sünde hat mich meine Mutter empfangen wurde Jahrhunderte lang dahingehend missverstanden, dass im Akt der Zeugung und Empfängnis schon das Sündhafte angelegt sei, während der hebräische Text einfach zum Ausdruck bringen will, dass jeder Mensch schon von Anfang an der Sünde zugeneigt ist, ohne dem Zeugungsakt etwas Sündhaftes beizulegen. Thurmairs Bild von der Verstrickung in Schuld und vom Netz des Bösen wehrt diesem Missverständnis.

Das Lied trägt viele neutestamentliche Bezüge ein. Ein fremdes mächtiges Gesetz / trieb mich dem Bösen in das Netz formuliert die zweite Strophe und greift damit einen Gedanken nicht des Psalms, sondern des Römerbriefs auf, der von dem „anderen Gesetz der Sünde“ spricht, das den Menschen „gefangenhält“ (Röm 7,23). Im Widerstreit von Gut und Böse entscheidet sich der Mensch nicht selten wider besseres Wissen für das Böse (vgl. Röm 7,19). Die Sünde kann man vor Gott nicht verbergen. Was bleibt, ist die Bitte, dass Gott sie nicht anschauen, sein Angesicht vielmehr von ihr abwenden möge. Mit diesen Worten aus Vers 11 des Psalms hebt die dritte Strophe an und lässt die Bitte aus Vers 12 um die Erschaffung eines reinen Herzens folgen. Dieses verdankt sich nicht den Bemühungen des Sünders, sondern dem souveränen Schöpferakt Gottes. Anstelle des alttestamentlichen Bildes vom Abwaschen der Schuld liegt dem Lied die Erzählung von der Heilung eines Aussätzigen zugrunde: „Jesus streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es – werde rein! Im gleichen Augenblick wurde der Aussätzige rein.“ (Mt 8,3)

Die Bitte um Verzeihung wäre nur halbherzig ohne den Vorsatz, in Zukunft das Gute zu tun. Entsprechend fleht die vierte Strophe um den Geist, der mich den Weg des Lebens weist und mich treibt zum Guten hin. Ohne die göttliche Kraft vermag der Mensch sich nicht aus dem Netz der Schuldverstrickung zu lösen. Die Einsicht in persönliche und strukturelle Schuld sowie die Bitte um Verzeihung und Besserung münden in den Lobpreis Gottes, der Großes getan hat (ein Echo des Lobgesangs der Maria, Lk 1,49), als er den Sünder nahm in Gnaden an.

Anstelle von Schlacht- und Brandopfern bietet der Psalmensänger Gott „ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz“ sowie einen „zerknirschten Geist“ an. Das Lied übernimmt das starke erste Bild und übersetzt das zweite in Geist, der seine Ohnmacht kennt und in Gott den alleinigen Herrn seines Lebens sieht. Die Antwort auf Gottes Vergebung ist die Hingabe des Menschen. Der Büßer unterwirft sich völlig dem Willen Gottes. Dann kann er auch wieder in rechter Weise Gottesdienst feiern, seine Stimme erheben und in Ewigkeit die Barmherzigkeit Gottes preisen.

 

Zusammenklang

Die mehr als vierhundert Jahre alte Melodie Ulenbergs entfaltet ihre Kraft auch mit dem nur gut vierzig Jahre alten Text von Maria Luise Thurmair. Von Zeile zu Zeile greift die Melodie weiter aus: zur Terz, zur Quart und schließlich zur Quint, die aber unmittelbar danach noch von zwei langen Tönen auf der Sext übertroffen wird. Hier in der Mitte des Liedes erreicht die Melodie ihren Spitzenton und wird zugleich langsam und eindringlich, bevor sie in der fünften Zeile tief nach unten führt und in der letzten Zeile nochmals kurz den Spitzenton tangiert.

Während Ulenberg keine Pausen in den Melodiefluss einträgt und sie somit dem natürlichen Atemrhythmus überlässt, fügt Lohmann nach jeder Zeile eine halbe Pause ein und metrisiert den Gesang zudem durch angedeutete Taktstriche. So erscheint das Lied auch in *GKL. Schon im *Gotteslob 1975 wurden jedoch jeweils zwei Zeilen ohne Pause zusammengefasst, wodurch sich ein Strophenaufbau aus drei Doppelzeilen ergibt. Dies entspricht sowohl der Textstruktur hebräischer Lyrik als auch der des Psalmlieds von Maria Luise Thurmair.


publiziert in:
Die Lieder des Gotteslob. Geschichte–Liturgie–Kultur, Stuttgart 2017