Schluss mit „Herr, erbarme dich“

Plädoyer für eine neue Kyrie-Kultur

Schlägt man liturgische Lehrbücher auf, erfährt man durchwegs, das Kyrie sei ein Huldigungsruf an den inmitten seiner Kirche gegenwärtigen Herrn. Besucht man einen Gottesdienst, erlebt man das Kyrie hingegen zumeist als Teil des Bußaktes. Die auffällige Diskrepanz liegt in der mehrfachen Bedeutung und Funktion des Kyrie, die nicht leicht zu durchschauen ist.

Die genannten Lehrbücher verweisen auf den Brauch in der vorchristlichen Antike, Götter (-statuen) und hochgestellte Persönlichkeiten (Kaiser, Statthalter …) am Stadttor zu begrüßen. Bei diesem Adventus Domini genannten Empfang akklamierte die versammelte Menge Kyrie eleison. Kyrie (=Herr) ist dabei der Ehrentitel der zu begrüßenden Person. Eleison heißt wörtlich übersetzt erbarme dich. Und damit beginnen die Probleme.

Der huldigende Charakter des Rufes um Erbarmen besteht im Bewusstsein der Macht des auf diese Weise Angerufenen. Man bittet nur jemanden um Hilfe, von dem man annimmt, dass er auch zum Helfen imstande sei. Um Hilfe gebeten zu werden, kann in diesem Sinne durchaus schmeichelhaft sein. Die Bitte um Erbarmen und der Lobpreis der rettenden Macht sind somit die zwei Seiten einer Medaille.

In der liturgischen Praxis ist jedoch wenig gewonnen, wenn beide Seiten nicht unterschieden werden. Ist das Kyrie im konkreten Gottesdienst Lobruf oder Bußgesang? Einige Beobachtungen:

Das Messbuch bietet im Eröffnungsteil drei Formen des Bußaktes. Neben dem klassischen Confiteor (Form A) und dem Wechselgebet (Form B), die beide ein ausdrückliches Schuldbekenntnis enthalten, finden sich auch tropierte Kyrierufe (Form C). Die Modellvorlage bietet entsprechend auch Tropen (Einschübe), die auf Sünde und Heilung anspielen. Alle drei Formen werden von einer Vergebungsbitte und dem Amen der Gemeinde abgeschlossen. Diese Vergebungsbitte kann übrigens entfallen, wenn das Tagesgebet eine solche enthält – eine Möglichkeit, von der augenscheinlich kein Gebrauch gemacht wird. Ebenfalls ist selten zu erleben, dass das Schuldbekenntnis entfällt, „wenn eine besondere Festlichkeit des Gottesdienstes dies nahe legt“. Und die Sonntage, an denen der Bußakt durch das Taufgedächtnis ersetzt wird, sind die absolute Ausnahme im Jahreslauf.

Es ist vielmehr zu beobachten, dass als Schuldbekenntnis inzwischen fast ausschließlich die Form C gewählt wird, mal mit christologischen, mal aber auch mit moralischen Tropen. Das hat Folgen für das Schuldbekenntnis einerseits (vgl. den Beitrag von Wolfgang Ipolt in gd 19) und noch gravierendere für das Kyrie andererseits.

Das Kyrie als Bestandteil des Bußaktes zu sehen, hat sich offenbar bereits derart verfestigt, dass auch das Gotteslob kaum eine Vertonung bietet, die einem Huldigungsruf angemessen erscheint (Ausnahme: GL 155). Die 14 anderen Melodien haben eher Bußcharakter oder sind für Litaneien gedacht. Zwei von ihnen sind sogar explizite Bußlitaneien. Jedenfalls sollte das Kyrie nach Möglichkeit gesungen werden (AEM 30).

Das Kyrie sollte als Huldigungsruf wiederentdeckt werden. Voraussetzung dafür ist der konsequente Verzicht auf die unglückliche Form C des Schuldbekenntnisses. Die Einleitung zu den Kyrie-Rufen dürfte nicht mehr auf das „Herabrufen des Erbarmens“ abheben, sondern davon sprechen, dass wir „den Herrn in unserer Mitte begrüßen“. Die eingeschobenen Tropen stehen in Du-, nicht in Wir-Form, nehmen das Handeln Gottes und nicht das Versagen des Menschen in den Blick. Eine abschließende Vergebungsbitte verbietet sich. Stattdessen entfaltet (an Sonn- und Festtagen) das Gloria unmittelbar den Lobpreisgedanken des Kyrie.

Das „Werkbuch Wort-Gottes-Feier“ (WGF) sieht solcherlei bereits vor und könnte damit Rückwirkungen auch auf die Messe haben. Die modellhaften Einführungen in die Wort-Gottes-Feier leiten mit „Ihm huldigen wir“ oder „Christus grüßen wir jetzt“ zum Kyrie über. Zudem ist das Kyrie aus der „Umklammerung“ von Schuldbekenntnis und Gloria befreit. Es hat damit keine Nähe zum Bußakt und ist einziger Lobgesang des Eröffnungsteils. Während die AEM in Nr. 30 noch davon spricht, dass „die Gläubigen im Kyrie den Herrn anrufen und um sein Erbarmen bitten“, heißt es in WGF Nr. 59 „Wenn im Eröffnungsgesang der Kyrieruf nicht enthalten war, können sich nun Christusrufe anschließen, die als Huldigungsruf an Jesus Christus gesungen werden“.

Eine zweite Möglichkeit wäre, das Kyrie im Rahmen des Eröffnungsgesangs ernster zu nehmen. Kyrie-Vertonungen oder festliche Litaneien (GL 146–156) mit geeigneten Zwischentexten böten sich an. Solche könnten neben christologischen Tropen vielleicht auch Verse aus dem Introituspsalm sein. Daneben gehören Leisen und Lieder mit Erbarmensruf zum Repertoire unserer Gemeinden. Ins Eingangslied integriert, hat das Kyrie eine fühlbar andere Aussage denn als kurzer Ruf. Kaum je aber ist zu erleben, dass das Kyrie am eigentlichen Ort wie vorgesehen entfällt, wenn zum Einzug solche Liedstrophen gesungen werden.

Die wichtigste Maßnahme jedoch dürfte sein, das Kyrie eleison unübersetzt zu verwenden. Jahrhundertelang bewahrte die lateinische Liturgie die originalen griechischen Worte. Wohl, weil sie um ihre vielschichtige Bedeutung im Milieu der Ausgangssprache wusste, die durch eine Übersetzung verloren ginge. In ähnlicher Weise verfuhr man übrigens mit dem hebräischen Hosanna. Wörtlich wäre es mit „Hilf doch!“ zu übersetzen. Gleichwohl wird es bereits im israelitischen Kult als Lobruf verstanden. Als solcher gelangt es in die christliche Liturgie, wird dort aber als Fremdwort beibehalten.

Machen wir künftig nicht zu viele Worte am Beginn unserer Gottesdienste. Begrüßen wir den Herrn in unserer Mitte und rufen ihm zu: Kyrie eleison!


publiziert in:
Gottesdienst 51 (2017) S.4–5

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