Kaleidoskop
Zahlreiche biblische Bilder klingen in diesem Lied an. Wie in einem Kaleidoskop blitzen sie rasch auf, machen aber sogleich Platz für neue Färbungen. Vor dem inneren Auge der Singenden entsteht so ein weites, biblisches Panorama. Die intensive Verarbeitung biblischer und liturgischer Motive lässt das Lied je nach Verwendungszusammenhang anders wirken. Geeignet ist es vor allem für die österlichen Zeiten, für Herz-Jesu- und Gute-Hirte-Tage.
Kreuzestod
Ausgangspunkte sind die Rede Jesu von sich als gutem Hirten (Joh 10) und sein Gleichnis vom verirrten Schaf (Mt 18,12f par). Als Evangelium werden die Texte aus Johannes 10 am 4. Sonntag der Osterzeit, dem „Guter-Hirte-Sonntag“, verkündet. Aus einer Osterpräfation stammt demnach auch die Rede von Christus als „Priester, Altar und Opferlamm“. Hoherpriester (Hebr 4,14f) und Lamm Gottes (Joh 1,29) wie Osterlamm (1 Kor 5,7) sind wieder biblische Wendungen.
Der gute Hirte, der sein Leben gibt für seine Schafe, das Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt und der Hohepriester, der für die Sünden der Menschen Opfer darbringt, das alles ist der an den Kreuzesstamm geheftete Gottessohn.
Erlösungstat
Unmittelbar knüpft daran die 2. Strophe an, die das Kreuz als Baum des Lebens besingt. Damit nimmt sie gleichzeitig den Baum des Paradieses und die damit verbundene Schuld des Menschen in den Blick. Wie der Baum des Lebens begegnen auch die mit Strom des Heiles angesprochenen Paradiesströme sowohl im ersten (Gen 2,10ff) wie im letzten Buch der Bibel (Offb 22,1). Die Wassermetaphorik hat ein reiches Assoziationsreservoir. Jesus bezieht das Wort „Aus seinem Innern werden Ströme lebendigen Wassers fließen“ (Joh 7,38) auf sich selbst. Und die Herz-Jesu-Präfation formuliert im Blick auf das Kreuz: „Aus seiner geöffneten Seite strömen Blut und Wasser, aus seinem durchbohrten Herzen entspringen die Sakramente der Kirche.“
Auf die Eucharistie verweist die folgende Zeile. Doch ist dort nicht einfach von Wein und Brot die Rede, sondern vom edlen Weinstock, dem Zeichen der Kommunion mit dem Herrn (Joh 15) und vom Himmelsbrot, dem Manna, das Christus selbst ist (Joh 6). Die Eucharistie ist demnach Leben, Heil und Arznei der Erlösung.
Endzeithoffnung
Nach Vergewisserung (1. Str.) und Glaubensaussage (2. Str.) blickt die dritte Strophe in die Zukunft. Das Wort des Vaters, das vor aller Zeit war, ist Fleisch geworden (Joh 1) und hat durch seinen Tod und seine Auferstehung das Tor des Himmels geöffnet (Sonntagspräfation IV). Jesus selbst ist die offene Tür, durch die wir zum ewigen Leben eingehen (Joh 10,9). Dort ist das Gotteslamm das Licht, das die Gottesstadt erhellt (Offb 21,23). Er ist das Licht, das denen leuchtet, die auf die Stimme des guten Hirten hören und sich auf seine Nachfolge einlassen (Joh 8,12).
Kamilla Usmanova und Schwester Adelgart
Die enge Verklammerung biblischer und liturgischer Aussagen zeugt von einem lebendigen Umgang der Autorin mit diesen Traditionen. Adelgart Gartenmeier ist Franziskanerin in Dillingen. Ein Einkehrtag regte sie 1997 an, in Liedern die Möglichkeit spirituellen Antwortens zu suchen. Kurz danach entstand auch das vorliegende Lied als eines von mehreren, die Sr. Adelgart ausgehend von ihrem Professspruch aus Psalm 23 schuf. Zunächst unterlegte sie den Text der Melodie Sei gegrüßt, du Gnadenreiche. So wurde es auch erstmals in *Ein neues Lied will ich dir singen I veröffentlicht. Da die Melodie zu wenig charakteristisch erschien, wählte die Gotteslob-Arbeitsgruppe eine neue, bisher unbekannte aus. Sie stammt von der usbekischen Kirchenmusikstudentin (2008) Kamilla Usmanova und entstand unabhängig von dem deutschen Lied, mit dem sie jetzt verbunden ist.
publiziert in:
Die Lieder des Gotteslob. Geschichte–Liturgie–Kultur, Stuttgart 2017