Die Sehnsucht des kosmischen Raumes

Zusammenhang und Widerstreit von Architektur und Malerei
am Beispiel der „Dettinger Passion“ von Reinhold Ewald

„Als ich 1923, etwa drei Monate vor der Einweihung, zum ersten Mal die im Rohbau befindliche Kirche betrat, kam sie mir zu eng und maßlich zu festgelegt vor, das heißt: alle Teile waren zu stofflich und tatsächlich meßbar – ob Säulen oder Abstände oder auch Materialverwendung in Betracht kamen.“ So schilderte der Maler Reinhold Ewald im Rückblick seinen ersten Eindruck von der Kirche in Dettingen am Main, die von der Offenbacher Architektengemeinschaft Dominikus Böhm und Martin Weber errichtet wurde. Seiner Ansicht nach mußte „das etwas verspielte Dekorative … durch dynamische Raumwirkung der Malerei überspielt werden.“ Ewald trat an, eine „Ausweitung des Innenraumes durch räumlich wandvertiefende Malerei und durch gegenwirkende Zurückstrahlung der gesamten Malerei nach dem Innern des Kirchenraumes“, mithin „eine doppelte Federung der Länge und der Breite des Kirchenraumes“ zu erzielen.[1]

Da errichtet das Architektenduo Böhm-Weber, die späteren Protagonisten liturgischen Bauens, in einem Tausend-Seelen-Dorf eine Kirche, für die sie die damals wegweisende christozentrische Idee reklamieren[2] und die man heute mit Fug und Recht als die erste moderne Kirche in Deutschland bezeichnet,[3] und einer der bekanntesten zeitgenössischen Künstler macht sich daran, diese – zumindest für den Sakralbau – avantgardistische Architektur zu übertreffen, zu „überspielen“, ja zu übertönen. Der Konflikt zwischen Architekten und Maler schien vorprogrammiert. Zwar nennen Böhm und Weber in der Denkschrift zur Einweihung Reinhold Ewald einen gleichgesinnten, außerordentlich wertvollen Mitarbeiter, der sich vollendet in den Geist des Bauwerks eingefühlt habe,[4] und versuchen aus Akzeptanzgründen – wie zuvor schon in Bezug auf ihre Architektur – die Modernität seiner Wandbilder herunterzuspielen. Doch die bestehenden Vorbehalte Böhms gegen Ewald finden noch Jahre später in einem Brief an den Pfarrer im benachbarten Großwelzheim ihren Niederschlag. Dort bringt Böhm zum Ausdruck, daß die Ausmalung der dortigen Kirche, die er erweitert hatte, kein zweites Dettingen werde, wenn man seinen Vorschlägen bei der Auswahl des Malers folge.[5] Schon für Dettingen hatten sich Böhm und Weber eine die Architektur unterstützende, mehr lineare Malerei gewünscht. Reinhold Ewald schuf stattdessen einen Bilderzyklus von raumbeherrschender Größe und Ausdrucksstärke. Zu fragen ist, ob sich darüber hinaus weitere Divergenzen oder Berührungspunkte in den Konzepten von Architekt und Maler finden lassen.

Dominikus Böhm hatte für die Ausmalung des Dettinger Kirchenraumes vermutlich zunächst Heinrich Holz (1890–1927) favorisiert, der mit ihm und Weber zusammen an der Offenbacher Bau- und Kunstgewerbeschule unterrichtete und zuvor schon eine Kapelle in Gönz bei Miltenberg und Böhms hölzerne St.-Josefs-Notkirche in Offenbach ausgemalt hatte.[6] Bei Holz hätte er sicher sein können, daß die Malerei den Architekturgedanken der „energischen Steigerung der räumlichen Wirkung mit der bestimmten und ausdrücklichen Richtung nach dem Hochaltar“[7] Rechnung trüge. Doch der Bauherr, der damals gerade 33-jährige Pfarrer Hugo Dümler, vertraute seinem Kunstsinn und beauftragte den Hanauer Expressionisten Reinhold Ewald mit der Ausmalung. Dümler war an der Würzburger Universität von den Gedanken Herman Schells beeinflußt worden, der neben dem Lehrstuhl für Apologetik auch die Fächer christliche Kunstgeschichte und Archäologie vertrat. Häufig war der junge Theologe zu Kunstausstellungen unterwegs, etwa im Rahmen der Darmstädter Sezession, deren Mitglied auch Ewald war. Der katholische Priester beauftragte also den protestantischen Expressionisten mit der Ausmalung der neuen Kirche und das, obwohl Ewald bis dahin noch mit keinem religiösen Werk an die Öffentlichkeit getreten war. Schon der erste Entwurf des Altarbildes begeisterte den Pfarrer. Für Ewald ein Freibrief, sich über die von den Architekten gewünschte illustrative Erzählungsmalerei[8] hinwegzusetzen.

Ausgehend vom Golgota-Bild an der Stirnwand über dem Hochaltar entwickelt Ewald einen Kreuzwegzyklus, dessen vierzehn Stationen die Wände des Langhauses von vorne links nach vorne rechts entgegen dem Uhrzeigersinn wie ein gewaltiger, 2,80 m hoher Fries umgreifen. Gewissermaßen konträr zur Passionsthematik erscheint an den Schildwänden vor dem Chorraum ein vierteiliges Marienleben aus Verkündigung, Heimsuchung, Geburt und Flucht nach Ägypten. Auf der südlichen Sängerempore – vom Gemeinderaum aus unsichtbar – ist mit dem Motiv „Pauli Bekehrung“ das einzige Bild mit Bezug zum Patrozinium der Kirche entstanden. Einer örtlichen Überlieferung zufolge gilt es als ein Werk von Ewalds Schülerin und späterer zweiten Frau Clara Weinhold, die ihn bei der Fertigstellung des Kreuzweg-Zyklus in Dettingen unterstützte.

Gemalt sind die Bilder überwiegend in Secco-Technik auf den rauhen Putz, der ursprünglich die ganzen Wandflächen bedeckte. Einzig die Figuren und einzelne Gegenstände wurden von Ewald in glattem Putz erhaben aufgebracht: auch dies ein Mehr an räumlicher Tiefe. Heute sind die Wandflächen außerhalb der Bilder glatt verputzt, weshalb die bemalten Flächen als in die Wand vertieft erscheinen. Auch erscheint der Kirchenraum heute in einem neutralen Grau, während er ursprünglich – vermutlich eine Anregung Martin Webers[9] – farbig gefaßt gewesen war. Wie restauratorische Voruntersuchungen ergaben, reichten die Farben dabei von dunklem Graublau in den Sockelzonen von Wand und Pfeilern, bis hin zu Ocker im offenen Dachstuhl und Gold im Chorbogen. Ob die frühe Vereinheitlichung der Raumfassung auf Ewald zurückgeht, der sich davon eine intensivere Farbwirkung seiner Bilder erhofft haben mag, läßt sich nicht mit Gewißheit sagen. Auffällig ist aber, daß die Maßnahme bereits drei Jahre nach der Einweihung durchgeführt wurde, und daher wohl kaum durch übermäßige Verschmutzung der Wandflächen begründet war.

Das zentrale Golgota-Bild über dem Hauptaltar hat mit 5 mal 6 Metern durchaus gewaltige Ausmaße. Es ist in jeder Hinsicht raumbeherrschend und zieht unwillkürlich die Blicke des Eintretenden auf sich. Eine solche „energische Steigerung der räumlichen Wirkung mit der bestimmten und ausdrücklichen Richtung nach dem Hochaltar“ war auch Böhm und Weber ein Anliegen. Mittel hierzu waren für sie „die Stützenreihung im Innern, das gedämpfte Licht im Schiff gegenüber der hell strahlenden Chorbeleuchtung, die Steigerung der farbigen Wirkung nach dem Hochaltar zu“.[10] Hierin ist sicher ein Berührungspunkt zwischen Architekten und Maler zu konstatieren. Auch die Anlage des Bildes läßt deutlich werden, daß es allen beteiligten Künstlern darum zu tun ist, den Altarraum als Erfüllung des Raumsehnens[11] zu entmaterialisieren. Was die Architekten durch die kristallen aufgelöste Decke in geometrischem Rabitzmuster versuchen, gelingt Ewald durch die Stellung des Kreuzesbaumes, den er nicht frontal, sondern so gedreht zeigt, daß der Querbalken und damit der expressiv überlängte Arm Jesu in den Raum hereinzuragen scheint und analog über die Bildfläche hinaus den Raum nach hinten vertieft. Dies schafft eine überraschende Dreidimensionalität des Bildes und überspielt meisterhaft die Materialität der Altarrückwand. Verstärkt wird dies noch durch den Lichteinfall von oben, den Ewald – entgegen dem architektonischen Befund, der seitliche Lanzettfenster aufweist – durch verschiedene Farbflächen suggeriert. Diese scheinen auf dem Boden am Fuß des Kreuzes einen Kreis auszustanzen, der durch einen rotbraunen Farbton markiert ist. Dynamik erhält die Komposition zudem dadurch, daß Ewald die Figuren diesem Lichtkegel in verschiedener Weise zuordnet bzw. sie von eigenen Farbräumen umgibt. Diese Räume lassen zusammen mit den Körperhaltungen Rückschlüsse auf die innere Bewegtheit der Figuren zu: Bei Magdalena ist es ein waagrechter Farbwechsel, der sie gewissermaßen niedergedrückt vom Schmerz erscheinen läßt. Johannes hingegen hat einen auberginen Farbraum, der seine Blickrichtung nach oben unterstreicht. Am deutlichsten ist die Wirkung des Farbraums aber bei der Mutter Jesu. Sie sinkt nach links an den Stamm des Schächerkreuzes. Blau ist der Raum, den sie in der Aufrechten beanspruchen würde.

Dem Altarbild vorgelagert sind die beiden Hauptbilder des Marienlebens: Verkündigung und Geburt. Die seitlichen Chorschrägen bilden zusammen mit dem zentralen Golgota-Bild formal gewissermaßen ein Tryptichon. Dadurch entsteht für den Betrachter eine Gleichzeitigkeit der Heilsgeschichte aus Inkarnation und Passion. Dies ist beileibe nicht der einzige Rückgriff auf die traditionelle Formensprache. Kreuzigung und Verkündigung entsprechen in Komposition und vielerlei Details den Bildtafeln des Isenheimer Altares, einem der Hauptwerke spätmittelalterlicher Altarmalerei.[12] Wie viele seiner Zeitgenossen setzt sich Ewald in Dettingen intensiv mit dem wenige Jahre zuvor in München ausgestellten Meisterwerk Grünewalds auseinander. Auffällig ist dabei die Wahl des Martertodes Jesu als Darstellung über dem Altar. Nicht daß Kreuz und Altar nicht zusammen gehörten, doch gibt es nur wenige Beispiele, in denen der Leidenskruzifixus dem Hauptaltar einer Gemeindekirche zugeordnet wird. Jahrhundertelang waren es vielmehr eigene Kapellen, Annexräume von Kirchen, die Kreuzaltäre der Lettner oder die Langhauswand, die dem Kreuzesleiden Jesu gewidmet waren. Nur in einem engen Zeitfenster kurz nach dem 1. Weltkrieg begegnet dieses Motiv auch im Zusammenhang mit Hauptaltären.[13]

Schon am Zentralbild der Dettinger Passion wird das erklärte Ziel des Malers augenfällig, der Architektur durch die Mittel der Malerei die Enge und Begrenztheit zu nehmen. Diesem „Eingriff“ in die Architektur steht auf der anderen Seite ihr „Aufgriff“ gegenüber. Es läßt sich nämlich auch der kreative Umgang Ewalds mit dem architektonischen Befund nachweisen. Böhms Anlage des Chorbogens in Dettingen kann nur als höchst ungewöhnlich bezeichnet werden. Die Trapezlösung, die sicher von dem Wunsch diktiert war, auch dieses Bauteil der im Raum vorherrschenden Dreiecksform unterzuordnen, greift er in der Folgezeit nie wieder auf.[14] War die Anlage des „gestuften Bogens“ in der hölzernen Notkirche in Offenbach 1922 noch als materialgerecht zu werten, verfängt das Argument in Dettingen nicht mehr. Aus der ungewöhnlichen Anlage ergeben sich zwei Schildwände, die, jeweils von einem polygonalen Betonpfeiler gestützt, in den Raum ragen. Ewald nimmt die Herausforderung dieser Wandflächen an und gestaltet die Bilder auf den ungewohnten Formen. Auffällig ist dabei die Zitation der umgebenden Architektur. Sind die Pfeiler und das Dachgebälk rechts oben auf dem Verkündigungsbild zusammen mit den drei Dreiecksbögen der Orgel- oder Sängerempore, durch die der Lichtschein der Überwelt auf den Engel fällt, noch als Umsetzung der Grünewaldschen Vorlage zu werten – auch in Isenheim vollzieht sich die Verkündigung in einem Kapellenraum mit großen gotischen Maßwerkfenstern – so ist die Begrenzung am linken oberen Bildrand sowie analog rechts oben auf dem Geburtsbild Ewalds eigene Schöpfung. Er zitiert dabei in der Verkündigung die abgetreppten Ziegel-Mauerungen des Chorbogens und in der Geburt die Gestalt der Wabendecke über dem Chorraum. Beide Details beinhalten mehr als nur aufmerksame Zitation. Durch die gemalte Architektur scheint die Materialität der Wand an dieser Stelle zu enden und das Bild sich immateriell wie ein Schirm oder ein Transparent zu verhalten. Das Dargestellte ist nicht das eigentlich, sondern nur der auf es verweisende Widerschein. Auch die Assoziation mit dem zur Todesstunde Jesu zerrissenen Vorgang des Tempels, der den Blick auf das Allerheiligste freigibt, liegt nicht fern. Auffällig ist ferner die Weiterführung des Chorschrägen-Winkels durch den Lichteinfall auf der Verkündigung und die Leiter im Geburtsbild, auf der – in Anspielung auf die alttestamentliche Jakobsleiter – ein Engel auf- oder niedersteigt. Die beiden in gleichem Winkel gezeigten Leitern auf dem Weihnachts- und dem Karfreitagsbild verbinden zudem unübersehbar das Heilsgeschehen: in seiner Geburt stieg Gott auf die Erde herab; am Kreuz bahnte er uns den Weg zum Himmel.

Auch dem oberflächlichen Betrachter der „Dettinger Passion“ fällt auf, daß die Wandbilder nicht aus einem Guß sind. Schon die beiden äußeren Bilder des Marienlebens sind eher flächig, wenig expressiv, fast schon als traditionelle Andachtsbilder gestaltet und auf glattem Putz ausgeführt. Aus der ersten Malphase Ewalds, noch vor der Einweihung der Kirche am 1. Juli 1923 stammen das zentrale „Tryptichon“ und drei Kreuzwegstationen, vermutlich die dritte, neunte und dreizehnte. An diesen wird die Expressivität der Gestaltung Ewalds am deutlichsten. Bei der dritten Station bilden drei Folterknechte auf einer schief in den Raum ragenden Farbfläche ein ineinander verschränktes Personenbündel. In dessen Mitte scheint Jesus im wallenden Gewand zu zerfließen. Er wirkt seltsam entrückt und umarmt mit überlangen Gliedern den Querbalken des Kreuzes. Der dritte Kreuzesfall in der neunten Station ist eine expressive Steigerung des ersten. Jesus stürzt bäuchlings aus dem dunklen Bildhintergrund in den hell erleuchteten Bereich hinein. Die zwei grau gekleideten Büttel bekommen vor dem dunklen Fläche einen gespenstischen Anstrich, während die beiden anderen durch ihre bunte Gewandung einen clownesken Zug erhalten. Drastische Verrenkung und überlängte Glieder geben ihnen den Anstrich übergroßer Bosheit und Gewalttätigkeit. Fast kubistisch mutet die Gestaltung der dreizehnten Station an. Kantig und flächig wirken die Gesichter des Johannes und des Josef von Arimatäa. Vor dem dunklen Hintergrund scheinen sie in ihren Gewändern zu zerfließen. Jesus im gelbrünen Inkarnat gezeigt, liegt im Schoß seiner Mutter, die sich schmerzerfüllt über ihn beugt. Das Orange am Fuß des Kreuzes, von dem nur der Stamm zu sehen ist, greift den Lichtkreis auf dem Golgota-Bild auf. Anstelle des klassischen Bildmotivs der Kreuzabnahme zeigt Ewald hier eine Pieta, eine Situation, die chronologisch zwischen der dreizehnten und vierzehnten Station einzuordnen ist. Überhaupt ist die Vorliebe Ewalds für den Typus des Andachtsbildes auffällig. Mehrfach stellt er Jesus in direktem Blickkontakt mit dem Betrachter dar und löst ihn somit fast unmerklich aus dem Zusammenhang des Bildes. Eindrucksvoll gelingt ihm dies in der ersten Station der Verurteilung Jesu. Zwischen Anklage und Richter steht der gefesselte Christus und blickt fast wie eine Ecce-Homo-Figur dem Betrachter entgegen. Ähnlich gestaltet Ewald die zehnte Station. Jesus wird aufrecht stehend und frontal gezeigt, während die Schergen, indem sie ihm die Kleider vom Leib reißen, ihn wie in einem Ballettanz zu umgeben scheinen. Schließlich ist auch das Motiv der elften Station ungewöhnlich. Anstelle einer Annagelungsszene greift Ewald auf den mittelalterlichen Bildtypus „Christus in der Rast“ zurück. Zusammengesunken sitzt Jesus auf den Kreuzesbalken, den ein kreisrunder Lichtschein in die Mitte rückt. die Soldaten sind am Bildrand mit dem Vorbereiten der Annagelung und der Aufrichtung beschäftigt.

Unter dem Gesichtspunkt der künstlerischen Gestaltung sind die elfte und die vierzehnte Station noch am ehesten mit den zur Einweihung bereits fertiggestellten Bildern zu vergleichen. Die Unterschiede innerhalb des Zyklus rühren zum einen sicher von verschiedenen Händen – Ewald überließ die Anlage des Bildgrundes und offenbar in der Folgezeit auch weitere Arbeiten – seinen Schülern. Zum anderen liegen sie aber ohne Zweifel in der vehementen Kritik an seiner Formensprache begründet. Interessanterweise fand nämlich die innovative Architektur von Böhm und Ewald mit ihrer Offenlegung der Konstruktion, ihrer Verwendung von Stampfbeton und ihrer augenscheinlich mit den überkommenen Sehgewohnheiten brechenden Detailgestaltung kaum Widerspruch. Ganz anders Ewalds Ausmalung. Während Größen wie Alfred Wolters oder Georg Lill, daneben auch die Gutachter der Denkmalbehörde positiv urteilen, ist in der lokalen Presse ein Aufschrei zu vernehmen, der im Vorwurf der Gotteslästerung gipfelte und das Würzburger Ordinariat zu einem unverzüglichen – gleichwohl vorübergehenden – Stopp der Ausmalung veranlaßt.[15] Weihbischof Adam Senger aus Bamberg, der die Kirche in Vertretung des altersschwachen Würzburger Bischofs konsekrierte, suchte vergeblich nach einem Kompromiß. Wenigstens im Verkündigungsbild bestand die Kirchenleitung aber auf Korrekturen durch Ewald: der kühne Hüftschwung des Engels wurde eliminiert und das weit von der Schulter gerutschte Gewand höher geschlossen.

Überhaupt scheint der Bauherr Pfarrer Hugo Dümler mit der Ausmalung der Kirche einen bewußten Coup gelandet zu haben. Zwei Tage nach der Weihe monierte man seitens des Ordinariats, nicht einmal Entwurfszeichnungen gesehen zu haben. Dümler hatte Würzburg sicher ganz gezielt im Unklaren über die konkrete Gestalt der Ausmalung gelassen, wohl wissend, daß ein solches Projekt niemals Chancen auf Zustimmung gehabt hätte.[16]

Die Übermalungen des Engels der Verkündigung konnte Ewald im Rahmen einer eigenhändigen Renovierung der „Dettinger Passion“ in den 60er Jahren wieder rückgängig machen. Leider überzog er dabei sein Werk aber mit einem Firnis der seither die Bilder stark abgedunkelt hat, Konturen verschleiert und die leuchtende Frische der Farben, von der die Besucher in den früheren Jahren begeistert berichteten, verblassen läßt.

Die raumgreifende Wirkung der Wandbilder Ewalds steht außer Frage. Was den Altar als Zielpunkt des Raumes und die hinter und vor ihm plazierten und die Wände gleichsam entmaterialisierenden Bilder angeht, ist das sicher auch kongruent mit der Auffassung der Architekten. Mit seinem gelungenen Versuch, auch den Gemeinderaum in der Breite zu „federn“ geht Ewald aber vermutlich weit über den Gedanken eines Weges zum Altar hinaus, der für Böhm und Weber noch baubestimmend gewesen war. Ihr Grundriß folgt dem basilikalen Schema und ist noch weit von den späteren innovativen Raumkonzepten beider Architekten entfernt. Das christozentrische Gedankengut ist – was Dettingen angeht – noch eher als nachträglich eingebrachter intellektueller Überbau und keineswegs als baubestimmendes Programm zu werten. Den Gedanken eines Einheitsraumes, dem Böhm das Wort redet, helfen erst die Wandbilder Ewalds zu verwirklichen. Statt einer Verschlankung und damit einhergehenden Zuspitzung des Langhauses auf den Chor erweckt Ewald die Seitenwände zu einem Eigenleben, das der architektonischen Längsachse vielfältige Querbezüge hinzugesellt. Der vom Kreuzweg umfaßte Raum wird tatsächlich geweitet und nähert sich von der meßbaren Rechteckform mehr und mehr dem empfundenen Quadrat. Diese Erkenntnis bietet Chancen für die noch immer ausstehende liturgische Neuordnung, die bislang bei aller Betonung des Altarraumes noch zu wenig beachtet wurden.

Im Zusammenwirken von Architekten und Maler ist vor achtzig Jahren in Dettingen am Main ein einzigartiger Kirchenraum entstanden, ein expressionistisches Gesamtkunstwerk, das seines Gleichen sucht. Nur hier bekam ein führender Vertreter des deutschen Expressionismus die einmalige Chance, eine Kirche auszumalen. Zwar stünde uns auch ohne die Ewaldschen Wandbilder noch immer eine Inkunabel modernen Kirchenbaus vor Augen, doch hätte diese nie eine solche künstlerische oder spirituelle Tiefe, solche außerordentliche Suggestivkraft erreicht. Obwohl Architekt und Maler teilweise unterschiedliche Ziele verfolgten, sind Architektur und Malerei doch untrennbar verbunden, aufeinander bezogen und im Ergebnis überzeugend. Das Raumsehnen, das nach Böhm auf die Altarstelle zuläuft und der kosmische Raum, den Ewald zu bilden versucht ist zusammengenommen vielleicht das Geheimnis eines jeden Sakralbaus: dem Menschen Ziel und Hoffnung geben in einer schier unendlichen Fülle von Möglichkeiten.

Biographie Reinhold Ewald

Reinhold Ewald, der Schöpfer der Dettinger Passion, wurde am 30. März 1890 als Sohn eines Buchhalters in Hanau geboren. Als 15-jähriger begann er eine Lehre als Dekorationsmaler und setzte ein Jahr später seine Ausbildung an der königlichen Zeichenakademie in Hanau fort. Talentiert wie er war, erhielt er ein Stipendium für das Studium an der Berliner Kunstgewerbeschule. Dort kam er in Kontakt mit den neuesten künstlerischen Richtungen, den französischen Impressionisten, Cézanne, Matisse und van Gogh. Auch Braque und Picasso wurden seinerzeit in der Berliner Sezession gezeigt. Entscheidend für Ewalds weitere künstlerische Entwicklung war eine Italienreise, die er 1913 unternahm, und von der er tief beeindruckt von den Fresken Giottos in der Scrovegnikapelle zu Padua und Piero della Francescas in San Francesco zu Arezzo zurückkehrte.

Seine eigenen Werke konnte Ewald erstmals 1914 im angesehenen Frankfurter Kunstsalon Schames präsentieren. Diese Ausstellung und die positive Kritik des einflußreichen Kunsthistorikers Alfred Wolters verschafften ihm weithin Beachtung. Ewalds künstlerische Karriere wurde jedoch zunächst vom Krieg unterbrochen, den er als Landsturmrekrut, später dann als Kriegsmaler an der Westfront erlebte.

1919 wird Reinhold Ewald Mitglied der Darmstädter Sezession und stellt dort im Folgejahr im Rahmen der vielbeachteten Schau „Deutscher Expressionismus“ aus. In einer Ausstellungsrezension heißt es, Ewald sei auf dem Weg, der raffinierteste deutsche Maler zu werden.

Anmerkungen

[1]     Reinhold Ewald, Die Pfarrkirche aus Sicht des Malers, abgedruckt in: Michael Pfeifer (Hg.) Sehnsucht des Raumes. St. Peter und Paul in Dettingen und die Anfänge des modernen Kirchenbaus in Deutschland, Regensburg 1998, 117–118: 117.

[2]     Vgl. Johannes van Acken, Christozentrische Kirchenkunst. Ein Entwurf zum liturgischen Gesamtkunstwerk, Gladbeck 1922, 21923.

[3]     Hugo Schnell, Der Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Dokumentation – Darstellung – Deutung, München 1973: 35.

[4]     Dominikus Böhm, Martin Weber, Der Bau und seine innere Ausgestaltung. Denkschrift zur Einweihung der katholischen Pfarrkirche Peter u. Paul zu Dettingen am Main am Sonntag, den 1. Juli 1923, abgedruckt in: Sehnsucht des Raumes, a.a.O. 9–12: 10f).

[5]     Dominikus Böhm, Brief an Pfarrer Alois Grünewald vom 27. 11. 1926 (Pfarrarchiv Großwelzheim, Akte Kirchenbau).

[6]     Helmut Winter, „Es muß deshalb nicht Dettingen werden“. Die Dettinger Passion im Spiegel der Kritik, in: Sehnsucht des Raumes a.a.O. 129–144: 130.

[7]     Böhm/Weber (s. Anm. 4) 9.

[8]     Ewald (s. Anm. 1) 117.

[9]     Während Böhms Kirchen in der Regel keine Wandfärbungen aufwiesen, hat Martin Weber auch später häufig mit Wandfarbe (Frankfurt, St. Bonifatius, jüngst wiederhergestellt), mit großflächigen, lasierenden Farbmustern (Frankfurt, Heiligkreuz) oder mit Farbfenstern gearbeitet, die die Wandflächen je nach Sonnenstand in verschiedenfarbiges Licht tauchen (Frankfurt Heiliggeist).

[10]    Böhm/Weber (s. Anm. 4) 9.

[11]    Ebd.

[12]    Ausführlich zu den Parallelen zwischen Ewald und Grünewald: Michael Pfeifer, Kosmische Raumbildung. Die Dettinger Passion im Lichte Grünewalds, in: Neues Magazin für Hanauische Geschichte 2003, 69–86.

[13]    Vgl. Herbert Muck, Von Bauformen zu Raumgestalten für Gemeindeliturgie. Christozentrik und Langhausproblem, in: Sehnsucht des Raumes a.a.O. 163–170: 166.

[14]    Eine vergleichbare Gestaltung findet sich – wohl unabhängig von Böhm – in der Hamburger Bugenhagenkirche von Emil Heynen aus dem Jahr 1927.

[15]    Winter (s. Anm. 6) 131.

[16]    Vielleicht ist ein solches Kommunikationsverhalten auch charakteristisch für Dümler. Noch zehn Wochen vor der Weihe forderte man den Pfarrer auf, doch wenigstens einmal das Patrozinium fast vollendeten Kirche zu nennen.


publiziert in:
Das Münster 57 (2004) Nr. 1, S. 29–34