Solang es Menschen gibt auf Erden

Liedporträt

Gott ist in unserer Mitte

Ein Sonntagnachmittag im November 1958. Auf einer Fahrradtour von Winsum nach Groningen dichtet Huub Oosterhuis Zolang er mensen zijn op aarde. Bereits am Abend wird das Lied in der Vesper gesungen. Begleitet von einem Saxophon. (Meyer 210)

Die Melodie dieser „Uraufführung“ stammte aus dem Genfer Reimpsalter (wie auch die Melodie zu Was uns die Erde Gutes spendet) und es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Dichter sie im Ohr hatte, als er die Verse aufs Papier warf. Auf Vermittlung von Willem Barnard kam es zu einer Neukomposition: Woltera („Tera“) de Marez Oyens (geb. Wansink) schrieb sie 1959. Geboren 1932 in Hilversum studierte sie am Konservatorium Amsterdam Klavier, Violine, Cembalo und Orchesterdirigieren. Später bildete sie sich an der Universität Utrecht im Bereich der elektronischen Musik fort. Von ihr stammen 14 Melodien im *Liedboek voor de Kerken 1973. Darunter die zu Zolang er mensen zijn op aarde.

 

Schwungvoll und kunstvoll

Die schwungvolle, von Synkopen geprägte Melodie ist ebenso schlicht wie kunstvoll, ebenso folkloristisch wie hymnisch. Zwei fast gleichlautende Zeilen umfassen einen Durdreiklang: Ausgehend von der Oberquinte federn sie über den Grundton zur Terz. Die dritte Zeile bietet eine weitere Wiederholung des Motivs – allerdings in der Mollparallele. Die letzte Zeile schwingt sich nochmals zur Oberquinte auf, steuert in pentatonischer Folge den Grundton an und umfasst damit nochmals den höchsten wie tiefsten Ton des Liedes.

Diese Melodie (wieder wie im Erstdruck alla breve notiert) hat sicher maßgeblich zur raschen Verbreitung des Liedes beigetragen. Heute ist es allein im deutschsprachigen Raum in neun offiziellen Gesangbüchern unterschiedlicher Konfessionen enthalten. Seit *EG 1993 wird es als ökumenisches Lied (ö) geführt. Doch seine Rezeption begann viel früher.

 

Schnelle Verbreitung

Angeregt durch Bastian Meyer, den Pfarrer der deutschreformierten Gemeinde in Frankfurt/Main, schuf Dieter Trautwein eine deutsche Übersetzung. Sie erschien 1966 in *Gott schenkt Freiheit, dem zweiten Heft von Jugendgottesdienstliedern, und bereicherte das Repertoire der Gottesdienste, die Trautwein als Stadtjugendpfarrer in Frankfurt begleitete. Dabei tauschte der Übersetzer erste und zweite Strophe des Oosterhuis-Originals – Trautwein schien es „vom christologischen Ansatz her richtiger, mit den Anklängen an den zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses zu beginnen“ – und verzichtete auf die vierte Strophe – wohl, weil sie ihm zu „katholisch“ erschien (Meyer 306).

Als Solang die Menschen Worte sprechen wurde das Lied in den folgenden Jahren in einem halben Dutzend evangelischer Liedersammlungen rezipiert. Auch fand es so noch Eingang ins *Aachener Diözesangesangbuch von 1971 und ins katholische *Militärgesangbuch von 1973, bevor Trautwein 1972 seine Übersetzung überarbeitete, Strophe vier ergänzte und auch die Reihenfolge des Originals wieder herstellte. Als Solang es Menschen gibt auf Erden fand das Lied Eingang ins *Liederbuch zum Evangelischen Kirchentag 1975 und den einflussreichen *Anhang 77 zum Evangelischen Kirchengesangbuch. Auch *Gotteslob 1975 und das katholische *Kirchengesangbuch der Schweiz 1978 nahmen es auf.

 

Mit Gott verwandt

Das *EG rubriziert das Lied unter „Erhaltung der Schöpfung“. Und obwohl in *GL 2 nun eine Rubrik zur „Schöpfung“ eingerichtet wurde, steht das Lied wie in *GL 1 unter „Vertrauen“. Das entspricht zweifellos dem Charakter des Liedes, gerade wenn man nach seinen biblischen Motiven sucht. Es beginnt mit der Verheißung am Ende der Sintflutgeschichte: „So lange die Erde besteht, sollen nicht aufhören Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“, heißt es da (Gen 8,22). Der Bestand der Welt ist also geradezu ein Gottesbeweis, eine Bestätigung dafür, dass Gott als Schöpfer des Menschen auch Vater seiner Geschöpfe ist.

Die zweite Strophe nimmt das Sprechen als ureigenstes menschliches Handeln in den Blick, wendet aber die Sichtweise von den Worten der Menschen unmittelbar zum Wort Gottes, das anders als so viele menschliche Reden zum Frieden ruft. Die Fokussierung auf das Thema Frieden ist eine zeitbedingte Zutat Trautweins. Im Original heißt die Zeile zolang wij voor elkaar bestaan (Solang wir voreinander bestehen). Die Zusage dieses Wortes, die Menschwerdung des Logos ist wiederum das lebendige Zeichen, dass Gott uns nicht verlassen hat.

Die Vögel in den Bäumen und die Blumen auf dem Feld spielen auf die Bergpredigt an (Mt 6,24–34). Mit den Vögeln und Lilien will Jesus Vertrauen auf den göttlichen Plan wecken: Sorgt euch nicht um Morgen, da doch der himmlische Vater weiß, was ihr braucht, er hat alle Tage schon bedacht.

Sind die in den vorangegangenen Strophen benannten Schöpfungsgaben bereits sprechende Zeichen für die Gegenwart Gottes, ist das Brot nun das eigentliche Sakrament der Rettungstat Jesu. Seinen Sohn gibt er in unsere Hände – auf durchaus doppeldeutige Weise: Er fiel uns in die Hände und wir schlugen ihn ans Kreuz. Wir empfangen im Brot seinen Leib mit unseren Händen und erleben im gemeinsamen Mahl Vereinigung. Dies ist uns Quelle des Lebens und Überwindung des Todes.

Die letzte Strophe wirkt beinahe wie die Doxologie am Schluss eines klassischen Hymnus. War in den beiden ersten Strophen vom Danken die Rede, ist nun als Reaktion auf die Schöpfungs- und Heilstaten Gottes das Rufen benannt. Doch ist hier nicht etwa bittendes Flehen, sondern vielmehr die lobpreisende Anrufung des Herrn gemeint, wie sie im Kyrie eleison begegnet. Es geht um die Hinwendung zum inmitten seiner Gemeinde gegenwärtigen Gott, der uns durch seine Liebe verwandeln will. Kinder Gottes heißen wir. Wir sind mit Gott verwandt (nach Apg 17,28).


publiziert in:
Die Lieder des Gotteslob. Geschichte–Liturgie–Kultur, Stuttgart 2017