Eine Straße aus Licht

Die kosmische Architektur mittelalterlicher Baumeister

Eine Kirche ist nicht Wohnung Gottes. Eine Kirche ist nicht Versammlungsraum der Gemeinde. Eine Kirche ist das Dazwischen. Sie ist Begegnungsraum von Gott und Mensch. Sie ist Schnittpunkt der Welten: von Erde und Himmel, von Zeit und Ewigkeit, von Diesseits und Jenseits. Kirchenraum und Liturgie sprechen eine gemeinsame Sprache: sie wollen Abbild des Himmels sein.

Basilika Sainte-Marie-Madeleine Vézelay - Lichtweg zur Sommersonnenwende

Lichtweg in Vézelay (Foto: Spielmann)

Was in der Kirche gegenwärtig wird – Menschwerdung Gottes, sein Tod und seine Auferstehung – hat eine kosmische Bedeutung. Nicht zuletzt deshalb bezogen mittelalterliche Baumeister ganz selbstverständlich astronomische Konstellationen in ihre Kirchenbauten ein, um den Raum zu bestimmten Zeiten mit bedeutsamem Licht zu füllen. Ein wichtiges Datum war dabei der Gedenktag des Kirchenpatrons. Ein Beispiel unter vielen ist die romanische Kirche in Breitenbach (Nähe Obernburg). Hier wurde nach Wechsel des Patroziniums auch das Altarfenster verändert, um den gewünschten Lichteinfall am Festtag zu bewahren. Oft sind die mittelalterlichen Lichtarchitekturen jedoch auf die Sonnenwenden im Sommer oder Winter bzw. die Tagundnachtgleichen im Frühjahr und Herbst bezogen, weiß Peter Spielmann, der sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem geistlichen Gehalt mittelalterlicher Kirchenarchitektur auseinandergesetzt hat. Spielmann ist bei langen Aufenthalten im burgundischen Vézelay dem Geheimnis der dortigen romanischen Kathedrale auf die Spur gekommen. Hier zeigt sich zur Zeit der Sommersonnenwende mittags das beeindruckende Schauspiel des Lichtweges: Durch die südlichen Fenster des Obergadens fallen Lichtflecken exakt in die Mittelachse der Kirche und bilden so eine Straße aus Licht, die vom Portal zum Altar führt. Das gleiche Phänomen zeigt sich in vielen anderen mittelalterlichen Kirchen, beispielsweise der Einhardsbasilika in Seligenstadt oder der Stiftskirche in Aschaffenburg an den Tagen um den 21. Juni. Auch hier werden die Gläubigen durch das Licht von der Schwelle zum Zentrum in der Vierung geleitet. Dort ist der Schnittpunkt der Welt: die West-Ost-Richtung des Langhauses kreuzt die Nord-Süd-Achse des Querhauses und öffnet so die Verbindung nach oben, zum Himmel. Der Beter wendet sich in der „Mitte der Welt“ dem Licht zu (Osten) und läßt den Schatten hinter sich. Links im Norden liegt die Seite des Todes, zu seiner Rechten im Süden aber das Leben. Heute steht an dieser zentralen Stelle in der Stiftskirche der Altar, der Ort, auf dem sich Himmel und Erde verbinden.

Einhardsbasilika Seligenstadt - Lichtweg zur Sommersonnenwende

Lichtweg in Seligenstadt

Je nach Standpunkt kann die Deutung der Lichtachse von West nach Ost unterschiedlich ausfallen: Dem einen beschreibt sie den Gang der Heilsgeschichte, dem anderen den Weg, der über alles Irdische hinausführt. Für den Astronomen ist sie die Markierung zwischen den Sternbildern Krebs und Zwillinge, für den Musiker die gespannte Saite eines Monochords. Dem Arzt erscheint sie als die Wirbelsäule der Kirche, den Liturgen verweist sie auf den Tag der Geburt des Täufers (24. Juni), von dem es heißt, er müsse abnehmen, Christus aber zunehmen (Joh 3,30). Entsprechend steht in Vézelay am Beginn des Lichtweges, an der Mittelsäule des Doppelportals im Westen, eine Statue des Täufers Johannes. Er weist hin auf das „aufstrahlende Licht aus der Höhe“, wie es im Gesang seines Vaters Zacharias heißt, den die Kirche jeden Morgen anstimmt. Zwischen ihm, dem Vorläufer, und „dem, der da kommen soll“ spannt sich die heilige Straße, ein Weg der Umkehr, der Buße, der Bereitung und schließlich der Heimkehr. Einst wurde der Mensch mit dem Flammenschwert aus dem Paradies vertrieben. Nun liegt vor ihm eine Leuchtspur, auf der Re-creatio (Neuschöpfung) geschieht und auf der er wieder zu Christus findet.

Stiftsbasilika Aschaffenburg - Lichtweg zur Sommersonnenwende

Lichtweg in Aschaffenburg

Wenn der Gläubige den Initiationsweg des Lichts beschreitet, taucht zudem der Mikrokosmos Mensch ein in den Makrokosmos der Schöpfung, die der Raum umbaut. Die Elemente, die ihn hier umgeben, haben auch ihre Entsprechung in ihm selbst; er besteht aus den selben Bausteinen wie die Welt um ihn.

Alle Erklärungen bleiben jedoch weit entfernt von dem, was geschieht, wenn der Raum sich mit Licht füllt, schränkt Spielmann ein, der nach eigenen Worten seine Kenntnisse erlesen, erlitten und erbetet hat, und macht auf einen weiteren liturgischen Bezug der Lichtachse aufmerksam: Der Pilgerpsalm 119 wird von den Mönchen zur Mittagszeit gebetet. In vielen Versen ist darin vom Weg die Rede. Das Licht, das Steine und Fenster modellieren, entspricht also dem liturgischen Beten auf der täglichen Pilgerschaft zu Gott. Auch die Möchsregel Benedikts spricht in ihrem Schlusskapitel vom „geraden Weg, auf dem wir zu unserem Schöpfer gelangen“.

Heilsgeschichte, Materie, Kosmos. All das umfaßt ein Kirchengebäude. Und gerade wegen dieser universalen Ausrichtung ist es dem Menschen gemäß: Auch er ist zu Höherem berufen, zur Vollendung in Gott. Für die kosmisch orientierte Architektur mittelalterlicher Baumeister ist Architektur ein „Alphabet“, die Steine sind „Buchstaben“ in einer „Bibel aus Stein“. Wir haben oft verlernt, dieser Sprache zu lauschen.


verschiedene Varianten publiziert in:
Würzburger katholisches Sonntagsblatt 30.6.2002, S. 30
Main Echo 9.6.2003
Glaube und Leben Nr. 23 vom 6.6.2004

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