Tief im Schoß meiner Mutter gewoben

Liedporträt

Kongenial aus dem Niederländischen

„Menschwerdung als Thema des Kirchenliedes“ war 1998 eine Tagung auf Kloster Kirchberg überschrieben. Hierfür schuf Jürgen Henkys die deutsche Übertragung des niederländischen In de schoot van mijn moeder geweven von Sytze de Vries, das 1995 in *Zingend Geloven zusammen mit der Melodie von Willem Vogel erschienen war. Die deutsche Fassung wurde in der Zeitschrift *Musik und Kirche 1999 erstmals publiziert, bevor Henkys das Lied vier Jahre später in seiner eigenen Sammlung *Stimme, die Stein zerbricht veröffentlichte.

 

Psalmlied wiederaufbereitet

Das Lied beschreibt das wunderbare Werden des Menschen anhand von Motiven aus Psalm 139. Der Psalmist weiß sich in seinem innersten Wesen von Gott erkannt. Jede Flucht, jedes Versteck, jede Tarnung – und wäre es die äußerste Finsternis – wären vergeblich, weil Gott allgegenwärtig ist. Und nicht nur die äußerliche Einöde, auch die innere Ödnis bleibt einem Gott nicht verborgen, der den Menschen von innen her kennt, ihm „die Nieren bereitet“ (Luther-Übersetzung) und ihn „im Schoß seiner Mutter gewoben“ hat (Ps 139,13, Einheitsübersetzung).

Es sind neben dem Initium des Liedes zwei Wortfelder, die der Autor aus dem Psalm schöpft: das Licht und das Wort. Virtuos führt er beide ein gutes Stück über den Psalmtext hinaus: Der Mensch ist von Anfang an, eh der Tag ihm begann, dem Licht zugedacht. Er ist kein Zufallsprodukt, sondern gewollt. Gott hat einen Plan mit ihm und stellt ihm das Ziel vor Augen. Er selbst ist das Licht, das sein Leben besonnt, vom Werden im Mutterschoß bis zum Heimgang ins ewige Licht.

Im Psalm bildet das noch unausgesprochene Wort, das dem Beter erst auf der Zunge liegt, ein eindrucksvolles Beispiel für das wunderbare Vorauswissen Gottes. Das Lied spricht davon, dass Gott, längst bevor sein Wort ihn gebaut, der Name des Menschen auf der Zunge liegt. Er ist ein Angesprochener. Er ist ein Berufener.

 

Singen statt Staunen

Über das Wunderbare dieser wissenden Nähe gerät schon der Psalmist ins Staunen. Doch nicht die schweigende Anbetung ist die angemessene Reaktion darauf, weiß der Liederdichter, sondern der Lobpreis. Der Mund, der kaum wusste zu sprechen, der „Mund der Kinder und Säuglinge“ (Ps 8,3) also, ist erfüllt vom Lob Gottes. Und angemessener Lobpreis ist nicht nur Wort, er ist Ton, Gesang und Lied. Es gehört gesungen, nicht nur gesprochen. Es entringt sich nicht nur dem Säugling, sondern will der Grundton des gesamten Lebens sein. Ein lebenslanger Ohrwurm, der anders als das ängstliche Pfeifen im Wald tatsächlich die drohende Nacht zu bezwingen weiß. Ein Lied also von Schöpfung und Erlösung, das am Beginn (zur Taufe) oder auch am Ende des Lebens Gottes Zuwendung vergegenwärtigt und lebenslang vom Vertrauen in seine Liebe singt.

 

Dynamisches Drängen

Die vierzeilige Melodie im Umfang einer Oktave folgt einem im *Gotteslob singulären Strophenschema. Zwei zehnsilbige Zeilen rahmen zwei sechssilbige. Die erste Melodiezeile schwingt im unteren Bereich (bis zur Quart) auf und ab. Textlich trägt sie Ausblicke in die Vergangenheit. Ohne Atempause drängen die drei Nachfolgezeilen jeweils mit melodisch gleichem Beginn empor und erreichen die Quint bzw. Sext, schließlich die Oktave. Dieser Spitzenton trägt durch alle fünf Strophen hindurch auch eine textliche Betonung. Der sanfte Beginn der Melodie bekommt im weiteren Verlauf eine große Dynamik, die erst mit dem Erreichen des Spitzentons wieder abflaut.


publiziert in:
Die Lieder des Gotteslob. Geschichte–Liturgie–Kultur, Stuttgart 2017