Licht und Weihrauch bringen wir dir dar¹

Ein Plädoyer für gemeindegemäßes Stundengebet

Das 2. Vatikanische Konzil empfahl den Seelsorgern, sich um die gemeinsame Feier des Stundengebets, namentlich der Vesper an Sonn- und Festtagen zu bemühen.[2] Trotz vieler guter und richtungweisender Initiativen [3] muß man ehrlicherweise eingestehen, daß die Bilanz dieser Bemühungen nach 35 Jahren noch immer negativ ausfällt. In wenigen Pfarreien hat sich regelmäßiges Stundengebet etabliert und selbst wo es gepflegt wird – etwa an zentraleren Kirchen –, ist eine vergleichsweise geringe Akzeptanz zu beobachten.

Unter den verschiedenen Ursachen für dieses Phänomen nimmt sicher die liturgische Form des Stundengebets selbst eine entscheidende Stellung ein. Schwerpunkt der Horen sind eindeutig die Psalmen, deren Anzahl zwar mit der letzten Reform deutlich reduziert wurde, die jedoch nach wie vor den Phänotyp Stundengebet prägen. Um es vorweg zu sagen: Das Psalmengebet ist etwas Wunderbares. Allerdings erschließt es sich für viele erst auf den zweiten Blick, und diesen gönnen sich nur wenige. Und ganz falsch ist die Vorstellung wohl auch nicht, daß das Psalmenbeten, gar das Psalmodieren, der Einübung bedarf und damit eher eine Form für „professionelle“ Beter und weniger für die Gemeinde darstellt. Noch unbewußt wird hier bereits ein Unterschied deutlich, der sich – namentlich in bezug auf die Vesper – auch historisch fassen läßt: der Unterschied zwischen monastischer Klostervesper und kathedraler Gemeindevesper. Während in früherer Zeit das Stundengebet der Mönche vor allem durch das fortlaufende Beten der Psalmen geprägt war, wählte man in den Gemeinden je einen charakteristischen Psalm für den Morgen- (Ps 63) und für den Abendgottesdienst (Ps 141) aus, der regelmäßig gesungen wurde und damit zum Ordinarium der Hore gehörte. Weiter unterschied sich monastisches und gemeindliches Gebet durch eine asketische Schlichtheit in den Klöstern einerseits und die stark ausgeprägten rituellen Elemente in den Gemeinden andererseits. Im Laufe der Zeit haben sich beide Stile abendlichen Gebetes gegenseitig beeinflußt und es entstand eine Mischform, in der das monastische Element überwiegt. Umgekehrt trug diese uns heute noch weitgehend vertraute Gestalt dazu bei, daß das Stundengebet mehr und mehr von der Gemeinde auf die Kleriker überging. Noch vor einer Generation kannte man das Brevier ausschließlich als Gebetbuch des Klerus.[4] Dennoch sind in der im monastischen Habit daherkommenden Vesper bei genauem Hinsehen die entscheidenden Elemente der Gemeindevesper erhalten geblieben. Dies zeigt ein Vergleich mit der Vesper im byzantinischen Ritus.

Im Osten ist die Vesper der Gemeindegottesdienst, noch vor der eucharistischen Liturgie. Zwar hat im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Ritus bis etwa ins 15. Jahrhundert ebenfalls ein Austausch monastischer und kathedraler Elemente stattgefunden, doch ist das Erscheinungsbild ungleich sinnenfälliger und offenbar gemeindegemäßer geblieben als im Westen. Im Kern der Vesper stehen mit dem Lichtritus, dem Weihrauchritus und dem Allgemeinen Gebet drei Elemente, die sich auch in den frühesten Zeugnissen der Gemeindevesper ab dem 2. Jahrhundert und für die folgenden Jahrhunderte in der ganzen christlichen Welt aufspüren lassen.[5] Diesen Zentralstücken vorgelagert ist nach einem Eröffnungsruf und einer Gebetseinladung der Schöpfungspsalm 104 sowie eine Folge von Psalmen in drei durch Kyrie-Litaneien unterbrochenen Abschnitten – ein deutlicher Einfluß des klösterlichen Gebets. Der Schlußteil der Vesper enthält neben etlichen Gesängen, die das Tagesgeheimnis thematisieren auch das „Nunc dimittis“ als abendliches Canticum aus den Evangelien.

Zwar ist durch augenscheinliche Dopplungen, Überlagerungen und manche Verschiebung die Struktur undeutlich geworden, doch stellen sich die beiden ersten der drei Zentralstücke relativ deutlich dar. Nach den Psalmenlesungen, also mit Beginn der eigentlichen Vesper, werden im ganzen Kirchenraum die Lampen entzündet und es beginnt der Weihrauchritus mit der Beräucherung von Altar, Ikonen und Gemeinde. Währeddessen singt man Ps 141, in dessen zweitem Vers es heißt „Wie Weihrauch sei mein Gebet, wie ein Abendopfer mein Händeerheben“. Dieser Psalm läßt sich in vielen Riten der ersten Jahrhunderte als der Abendpsalm des gemeindlichen Gebets benennen. Im Laufe der Zeit wurde er dann rituell ausgedeutet, indem man während des Psalmengesanges tatsächlich Weihrauch entzündete. Diese Ritualisierung wurde dadurch begünstigt, daß dem Weihrauch zu allen Zeiten reinigende Wirkung zugeschrieben wurde und sich die theologische Implikation abendlichen Gebets auf die Besinnung auf den vergangenen Tag und die Bitte um Sündenvergebung zuspitzen läßt. In der byzantinischen Vesper wird Ps 141 durch den folgenden Ps 142 sowie durch Ps 130 fortgeführt. Beide haben ausgeprägten Bußcharakter. Der abschließende kurze Ps 117 bringt hingegen die Dankbarkeit für die Gnade und Treue Gottes in einer Lobpreisung zum Ausdruck. Charakteristisch für den Gesang dieser vier sogenannten Luzernarpsalmen ist das Einschieben von Stichiren zwischen die letzten Psalmverse. In diesen kleinen poetischen Strophen wird das Festgeheimnis oder der Tagesheilige besungen. Ohne daß sie einen direkten Zusammenhang zu den sie einleitenden Psalmversen hätten, sind sie dennoch vergleichbar mit den Antiphonen und „Überschriften“ [6] der Psalmen im lateinischen Stundengebet, die eine Konkretion oder christologische Deutung des Psalmenbetens vorgeben.

Zeitgleich mit dem Weihrauchritus beginnt man mit dem Entzünden der Lampen im Kirchenraum. Wenn nun nach Abschluß des Psalmengesanges der ganze Raum erhellt ist, intoniert man den uralten Hymnus „Freundliches Licht“, den schon Basilius im 4. Jahrhundert bei den Lesern seiner Schrift über den Heiligen Geist als bekannt vorraussetzt. Auffällig ist, daß im heutigen byzantinischen Ritus der Licht- und Weihrauchritus vertauscht erscheinen. Dies liegt möglicherweise darin begründet, daß das Entzünden der unzähligen Lichter und Lampen im Kirchenraum der ritenprägenden Hagia Sophia in Konstantinopel seine Zeit brauchte und erst nach Abschluß dieser Handlung Christus als das „Freundliche Licht“ des Vaters besungen wird.

Der dritte Abschnitt gemeindlicher Abendsynaxe findet sich am augenfälligsten im Rahmen der ganznächtlichen Vigil vor großen Festen. Die ganze gottesdienstliche Versammlung zieht dann nämlich nach dem Hauptteil der Vesper zu einem ausführlichen Fürbittgebet in den Vorraum der Kirche, wo auch die Katechumenen anwesend sein können. In der gewöhnlichen Vesper bleibt das Fürbittgebet auf die „Inständige Ektenie“ beschränkt, eine weitere Kyrie-Litanei, die sich sonntags unmittelbar an den Weihrauch- und Lichtritus anschließt. In der byzantinischen Vesper lassen sich somit ohne größere Schwierigkeiten die Grundelemente der altkirchlichen Kathedralvesper aufspüren.

Betrachtet man die Struktur der Vesper nach dem klassischen römischen Ritus finden sich erstaunliche Parallelen zum eben vorgestellten Schema des byzantinischen Vespergottesdienstes.[7] So bestand das Kapitel, die kurze Lesung nach Abschluß der (monastischen) Psalmodie, sehr häufig aus 2 Kor 1,3–4 „Gepriesen sei der Gott und Vater Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes …“ Dieser Vers kommt dem Eingangssegen der byzantinischen Vesper recht nahe. Wenn man bedenkt, daß das Kapitel traditionell ohne Ankündigung und Akklamation gelesen wird, erhärtet sich die Vermutung, daß wir es hier mit dem Eröffnungsruf des „kathedralen Teils“ der römischen Vesper zu tun haben. Das auf die Kurzlesung folgende Responsorium war häufig aus Versen des Ps 104 zusammengesetzt und hielt damit möglicherweise eine Erinnerung an den Eingangspsalm wach, der in voller Länge noch bei den Byzantinern gesprochen wird. Der früher an dieser Stelle folgende Hymnus hat einen Bezug zur Tages- oder Festzeit und entspricht damit dem Lichthymnus, der im Osten allerdings stets unverändert bleibt. Vor dem Magnifikat schließlich erklang in Ruf und Antwort das Versikel, ein Verspaar, das zumeist Ps 141,2 entnommen war. Darin ist ein Relikt des ganzen Psalms zu erkennen, der einst an dieser Stelle zur Begleitung des Weihrauchritus gesungen wurde und der nunmehr auf das Magnifikat übergegangen ist.[8] Die kurzen Kyrierufe, die nach dem Magnifikat das Vater unser einleiten, sind wie eine Reminiszens an eine ausführliche Kyrie-Litanei in der der Diakon Bitten für Kirche und Welt vortrug und die alle mit Kyrie eleison beantworteten. Das Herrengebet faßt diese Bitten zusammen und führt sie weiter.

Welche Folgen ergeben sich aus dieser vergleichenden Betrachtung östlicher und westlicher Vesper für das heutige gemeindliche Stundengebet am Abend? Die Erfahrung zeigt, daß der Versuch, einmal Entfremdetes zurückzuverpflanzen – auch wenn er nur halbherzig durchgeführt wurde – gescheitert ist. Angemessener als die „Rückverpflanzung“ einer nun eher monastisch gewordenen Gemeindevesper wäre möglicherweise die „Rückzüchtung“ einer authentischen Gemeindevesper. Dies ist keine Frage von Liturgiearchäologie sondern ein pastorales Erfordernis. Wie also könnte ein gemeindliches Abendgebet aussehen?

Die Eröffnung einer Vesper bildete ein Lichtritus. Das Licht würde hereingetragen bzw. in der österlichen Zeit von der in der Nähe des Ambo brennenden Osterkerze genommen und verteilt. Man kann dabei nur die Altarkerzen oder zu besonderen Anlässen auch Kerzen in den Händen der Gläubigen entzünden. Nach einer einleitenden Akklamation wird das Verteilen durch einen Hymnus oder ein Lied begleitet. Eine Oration oder eine ausführlichere Lichteucharistie schließt diesen ersten Teil ab.[9]

An den eröffnenden Ritus schließt sich der Gesang eines Psalmes an. Hierfür eignet sich in erster Linie Ps 141 wegen der ausdrücklichen Erwähnung des abendlichen Rauchopfers und seines Bußcharakters. Wenn die Betonung auf Sündenvergebung unangebracht scheint und das Lob des Schöpfers im Vordergrund stehen soll, eignet sich auch Ps 104. Beidemale ist eine responsoriale Ausführung zu empfehlen, sodaß die Gemeinde stets in die Antiphon einfallen kann und den Psalm selbst nicht als Textvorlage benötigt. Wird der Psalmengesang zum Weihrauchritus ausgestaltet, wählt man Ps 141,2 als Kehrvers. Auch dieser Ritus kann in gestufter Feierlichkeit vollzogen werden. Man kann Weihrauch vor dem Altar in einer Schale verbrennen oder mit dem Weihrauchfaß (die ganze Kirche umschreiten und anschließend) den Altar und die Gemeinde beräuchern. Eine weitere Oration beendet den Weihrauchritus.[10] Die rituelle Ausgestaltung beider Elemente kann natürlich variieren. Während man in Advent und Weihnachtszeit den Lichtritus betonen wird, verbietet sich eine breite Ausgestaltung dieses Teils in der Quadragesima, um keine Konkurrenzsituation zur Osternacht aufkommen zu lassen. Hier ist der Weihrauchritus mit dem Schwerpunkt auf der Sündenvergebung vorzuziehen.

Auch der dritte Teil des gemeindlichen Abendgebetes kann auf verschiedene Weise gestaltet werden. Feste Formen (etwa eine Litanei ähnlich GL 762,7, auch mit Kyrie eleison als Antwortruf) bieten sich ebenso an wie freie Fürbitten aus der Gemeinde. Auch die Entlassung läßt sich noch sinnenfällig verstärken. Wie in Klöstern nach der letzten Gebetszeit des Tages üblich, könnte die Gemeinde nach dem Segen mit Weihwasser besprengt werden.

Zwischen Weihrauchritus einerseits und dem Allgemeinen Gebet andererseits läßt sich ein Verkündigungsteil einschieben. Dieser kann wie gewohnt aus Kurzlesung und Antwortgesang bestehen. Dann empfiehlt sich auch der Gesang des Magnifikat, gewissermaßen als Evangelienperikope, womit sich die Gemeindevesper recht nahe am gewohnten Aufriß der Liturgia horarum bewegt. Es ist aber auch denkbar, zwischen die rituellen Elemente und das Allgemeine Gebet einen breiteren Wortverkündigungsteil mit (mehreren) Lesungen, Antwortgesängen, Halleluja, Evangelium und Homilie einzufügen. Auf diese Art läßt sich die Vesper auch zu einer Vigilfeier vor einem Festtag ausgestalten.

Gerade diese die Sinne ansprechende Form des Abendgebetes eignet sich für einen „Predigtgottesdienst“, zu dem namentlich in Advents- und Fastenzeit vielerorts eingeladen wird. Als liturgischen „Rahmen“ für die Predigt das Schema des aus der Meßfeier isolierten Wortgottesdienstes zu verwenden wirkt unpassend. Hinzu kommt, daß die Orientierung am Wortgottedienst der Messe die Gestalt eines solchen Predigtgottesdienstes irgendwie amputiert erscheinen läßt, wirkt doch der Gottesdienst dann äußerst wortlastig und in ritueller Hinsicht eindeutig defizitär. Das wird noch deutlicher, wenn ein Laie diesem Gottesdienst – etwa als einer Wort-Gottes-Feier – vorsteht und wegen rechtlicher Bestimmungen auf alle „priesterähnlichen“ Grußworte und Gesten (etwa die Orantenhaltung) verzichtet. Ein Abendgottesdienst in der beschriebenen Form bietet ein sinnenfälliges Gegengewicht zur Wortlastigkeit eines solchen Gottesdienstes.

 

Anmerkungen

1 Der Beitrag geht zurück auf das Seminar „Das abendliche Licht – Der ostkirchliche Vespergottesdienst“, das am 11. November 2001 im Aschaffenburger Martinushaus stattfand. Der Titel zitiert Theodoret von Cyrus, Quaestiones in Exodum 28.

2 Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ Art. 100.

3 Vgl. die Publikationen von Guido Fuchs (Singet Lob und Preis. Stundengebet mit der Gemeinde feiern, Regensburg 1993) und Paul Ringseisen (u. a. Morgen- und Abendlob mit der Gemeinde, Freiburg 1994), die neuen Arbeitshilfen aus Österreich (Klaus Einspieler, Lobe den Herrn meine Seele, vgl. die Besprechung in gd 24/01, S. 190) und der Schweiz (Innehalten im Tageskreis, vgl. die Besprechung in gd 22/01, S. 174) sowie die Vorschläge in dieser Zeitschrift (zuletzt gd 22/01, S. 172f).

4 Einzelne Versuche der Vergangenheit, Stundengebet in der Gemeinde zu verwurzeln – etwa die Initiative des Konstanzer Generalvikars Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774–1860) – blieben Ausnahmen.

5 Vgl. Gabriele Winkler, Über die Kathedralvesper in den verschiedenen Riten des Ostens und Westens, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 16 (1974) S. 53–102. Robert Taft, The Liturgy of the Hours in East and West, Collegeville 1985.

6 So AES 111.

7 Vgl. Hansjakob Becker, Zur Struktur der „Vespertina Synaxis“ in der Regula Benedicti, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 29 (1987), S.177–188.

8 Noch im 13. Jh. war das Inzensieren zum Versikel vor dem Magnifikat üblich (vgl. Amalar von Metz, Liber officialis IV,7,19f).

9 Konkrete Vorschläge zur Gestaltung des Luzernariums u. a. in den in Anm. 3 genannten Publikationen.

10 Konkrete Vorschläge zum Weihrauchritus außer in den in Anm. 3 genannten Publikationen in Michael Pfeifer, Der Weihrauch. Geschichte, Bedeutung, Verwendung, Regensburg 1997 sowie im Internet unter www.incens.de.


publiziert in:
Gottesdienst 36 (2002) 49–51

Zum Thema

Buchcover "Der Weihrauch" (2018)

Michael Pfeifer

Der Weihrauch

Geschichte, Bedeutung, Verwendung