Die in meinen Augen immer noch zu seltene Verwendung von Weihrauch in unseren Gottesdiensten rührt nicht zuletzt von Unsicherheiten im praktischen Vollzug her. Insofern ist es sehr zu schätzen, dass der Beitrag „Nicht nur Leuchter auf zwei Beinen“ konkrete Hinweise zum Ablauf der (Weihrauch-) Riten rund um das Evangelium gibt. Aus den gleichen Gründen ist vielleicht auch zu erklären, warum GORM 277 wieder zum Zählen von Rauchfassschwüngen zurückkehrt, wogegen die AEM einfach vom nicht näher qualifizierten „Inzensieren“ sprach und es den liturgischen Akteuren überließ, wie dies zu geschehen habe.
Aus AEM 93 (vgl. GORM 132) erhellt, dass es Aufgabe des Vorstehers ist, vor dem Evangelium Weihrauch einzulegen. Dies tut er sinnvoller Weise aber nur dann am Sitz, wenn er nicht auch Verkünder des Evangeliums ist, wenn also beispielsweise ein Diakon dem Priester oder Bischof assistiert. Andernfalls wird es zweckmäßig sein, die Imposition am Startpunkt der Prozession zu vollziehen, also am Altar oder einem besonderen „Ort des Buches“. Die Evangelienprozession formiert sich nämlich nicht am Sitz des Vorstehers sondern am Ort des Evangeliars (vgl. CE 140), ist sie doch nicht das feierliche Geleit für den Verkünder, sondern für den Herrn, der in seinem Wort zu uns kommt. Wird kein Evangeliar verwendet oder befindet sich das Lektionar bereits am Ambo, wäre es schlüssig, wenn Kerzen- und Weihrauchträger sich ebenso wie der Verkünder dort einfänden und direkt am Ambo Weihrauch eingelegt würde. Eine „Evangelienprozession“ ist dann eigentlich obsolet und wäre sinnentleertes Ritual. Die im Werkbuch WGF (Nr. 65) beschriebene Prozession ohne Evangeliar ist demnach keine „Verkünderprozession“, sondern ein gemeinsamer Ortswechsel aller im Altarraum Versammelten zum Ambo. Kerzen und Weihrauch sollten dabei nicht mitgetragen werden.
Anders als bei der Prozession zur Übertragung des Allerheiligsten in der Wort-Gottes-Feier, für die die Angaben im Werkbuch WGF (Nr. 90) sehr detailliert ausfallen, findet sich dort nichts zur konkreten Ordnung der Evangelienprozession. Aus PEM 17 und AEM 131 (vgl. GORM 175, dagegen CE 74) lässt sich jedoch ableiten, dass normalerweise die Kerzenträger vorausgehen. Das Rauchfass hingegen ist dem Evangeliar zugeordnet und wird ihm direkt vorangetragen. Beides sind übrigens der historischen Genese nach Ehrenzeichen des Bischofs, dem eigentlichen Vorsteher der Liturgie.
Grundsätzlich wäre zu fragen, ob – namentlich in der WGF und wenn kein Evangeliar verwendet wird – überhaupt eine Evangelienprozession oder nicht vielmehr eine Prozession zu Beginn des Wortgottesdienstes angebracht wäre, um die Einheit der Schrift erfahrbar zu machen. Leuchter könnten zunächst am Ambo abgestellt, zum Evangelium aber von Ministranten gehalten werden. Auch Weihrauch träte erst zum Evangelium hinzu. Dadurch würde das Evangelium noch immer als „Höhepunkt des Wortgottesdienstes“ akzentuiert.
publiziert in:
Gottesdienst 53 (2019) S. 240
zu: Nicht nur Leuchter auf zwei Beinen, Gd 17/2019