Gott ist gegenwärtig

Liedporträt

Von Gerhard Tersteegen erzählt man sich, er habe die seinem Wohnhaus gegenüber liegende Kirche zeitlebens nie betreten. Der 1697 in eine evangelisch-reformierte Familie hineingeborene Dichter des Liedes wurde vom Pietismus geprägt. Diese geistliche Erneuerungsbewegung an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert suchte religiöse Erfüllung nicht im landeskirchlichen Gottesdienst, sondern vielmehr in privaten Erbauungsstunden. Bei solchen Zusammenkünften tat Tersteegen sich als Prediger und Seelsorger hervor.

Und geistliche Lieder waren wichtiger Bestandteil solcher Konventikel. Zahlreiche davon versammelte Tersteegen in seiner 1729 erschienenen Sammlung „Geistliches Blumen-Gärtlein inniger Seelen“. Darunter auch Gott ist gegenwärtig.

 

Himmlische Liturgie

Im Original trägt das Lied den Titel „Erinnerung (= Gewahrwerdung) der herrlichen und lieblichen Gegenwart Gottes“. Schaut man auf die 2. Strophe, so ist an der darin geschilderten Thronvision des Jesaja so gar nichts lieblich: Um den Thron stehen Cherubim und Seraphim und rufen „Heilig“. Davon erbebt die Schwelle des Tempels. Rauch verschleiert den Anblick Gottes. Der Prophet fühlt sich unrein. Ein Seraph reinigt seine Lippen mit glühender Kohle. Dann kann Jesaja sprechen „Hier bin ich, sende mich.“

Diese Szenerie betritt christliche Gemeinde jedes Mal unmittelbar vor den Einsetzungsworten der Eucharistie. Sie stimmt ein in den Gesang der Engel und Heiligen, die ohne Ende rufen: Heilig, heilig, heilig. Trotz dieser Strophe ist Gott ist gegenwärtig kein Lied für die Liturgie.

Tersteegen versucht vielmehr, das Gefühl einer unwiderstehlichen Überwältigung durch die Gegenwart Gottes, das er selbst erlebt und dem er sein gesamtes Leben unterworfen hat, auch für andere im gemeinsamen Gesang erfahrbar zu machen. Wenn sich beim Singen des Liedes dieses Gefühl der Gottesnähe einstellt, wäre es also konsequent zu verstummen und „den Wirkungen des Geistes Gottes Raum zu lassen, Gott selbst die Andacht zu leihen, der in der größtesten Stille aufs herrlichste und beste gelobet wird“, wie Tersteegen selbst sagt.

 

Ein Lied, das in die Stille führt

Kaum hat die Gemeinde im festlichen Ton „Gott ist gegenwärtig!“ ausgerufen, wird sie auch schon zum Schweigen gemahnt. Weiß doch der Mystiker, dass Gotteserfahrung nur in Stille geschehen kann: Das Sprechen wird abgelöst vom Schauen.

Was aber ist der Gegenstand der Betrachtung? Dass Gott im Lied als Wesen bezeichnet wird, könnte man als Relativierung verstehen, als Ausdünnung der Personhaftigkeit im Sinn der Aufklärung. Heißt es in der 4. Strophe noch majestätisch Wesen, ist in Strophe 8 vom nahen Wesen die Rede. Und dieses nahe Wesen ist eben nicht mehr der transzendente, fast anonyme Gott, sondern der menschgewordene Christus.

Wenn in Strophe 5 von Luft und Meer die Rede ist, in Strophe 6 dann ganz poetisch von der zarten Berührung der Blumen durch das Licht, dann weil Tersteegen nach sprachlichen Ausdrücken für die Gegenwart Gottes in Allem sucht, jenseits der Begrenztheit personaler Begriffe. Dabei löst er Gott aber keineswegs im Unpersönlichen auf. Die Beziehungsebene bleibt bestehen: Ich in dir, du in mir heißt es in Strophe 5. Und an der Nahtstelle der beiden Abschlussstrophen bittet der Sänger komm in mir wohnen und will in dir nur leben.

Dieses Ineinander von Gott und Mensch – die Mystiker des Mittelalters nannten es unio mystica – ist kennzeichnend auch für die Mystik des Pietismus. Und darin besteht auch die ökumenische Relevanz des Liedes.

 

Ein ökumenisches Lied

In den letzten dreihundert Jahren ist das Lied in zahlreichen evangelischen und reformierten Gesangbüchern überliefert worden. Mit dem Gotteslob 2013 erscheint es nun erstmals in katholischem Umfeld und wartet dort wohl noch auf seine Entdeckung. Das Verbindende ist neben dem biblischen Bezug sicher auch der Ausgriff auf die mystische Tradition: Im Gebet verstehen sich Menschen unterschiedlichen Glaubens leichter als bei theologischen Definitionen. Und auch wenn das Lied zur katholischen Sakramentsandacht verwendet wird und sich damit denkbar weit von seinem Ursprung entfernt – unterscheiden würde sich nur die äußerliche Form des Gottesdienstes. Entscheidend jedoch ist die innere Empfindung: Gott ist gegenwärtig in mir.


publiziert in:
Würzburger katholisches Sonntagsblatt 2017/28 S.26