Und suchst du meine Sünde

Liedporträt

Jüdisches und Christliches

Als der jüdische Schriftsteller und Publizist Schalom Ben-Chorin angefragt wurde, ob eines seiner Gedichte vertont und in das *Liederheft zum evangelischen Kirchentag 1967 aufgenommen werden dürfe, soll er zu seiner Frau Avital gesagt haben „Stell dir vor, ich bin der erste Jude, dessen Lied ins evangelische Gesangbuch kommt.“ Worauf sie antwortete: „Nein, der zweite!“ und spielte damit auf König David und seine Psalmen an.

In der Tat wurde der Psalter aus Israels Heiliger Schrift zum Gebet- und Gesangbuch der christlichen Kirche. Er wurde es in einem Maße, dass man nicht selten seinen jüdischen Ursprung vergaß. Erst jüngeren Datums ist die Einsicht, dass Juden und Christen Geschwister im Glauben seien und seit Jahrhunderten mit denselben Worten vor Gott ihre Lebenserfahrungen aussprechen und zu ihm rufen.

Die Psalmentexte waren ihrerseits Inspirationsquelle für Dichter und Beter aller Zeiten, sowohl auf jüdischer wie auf christlicher Seite. Das gilt auch für den Kernsatz, aus dem das vorliegende Lied entwickelt ist: „Fragst du nach meiner Schuld – flieh ich vor Dir zu Dir und berge mich vor Deinem Zorn in Deinem Schatten“. Die Zeilen stammen von Solomon (Salomo) Ibn Gabirol, der im Spanien des 11. Jahrhunderts lebte. Seine philosophischen Texte – unter dem Namen Avicebron durch lateinische Übersetzungen vermittelt – fanden großen Anklang im mittelalterlichen Christentum. Erst 1846 identifizierte man den Autor mit Ibn Gabirol und mithin als Juden. Seine Lyrik hingegen wurde stets vor allem jüdischerseits rezipiert und fand schon früh Eingang in den Synagogengottesdienst. So auch das etwa tausend Verse umfassende Gedicht ‚Keter Malkut‘ (Reichskrone), das noch heute am jüdischen Versöhnungstag (Yom Kippur) gelesen wird. In seinen drei Teilen handelt es von Gott und seiner Schöpfung sowie vom schuldverstrickten Menschen.

Zwar schreibt Schalom Ben-Chorin in seinem 1966 erschienenen Lyrikband ‚Aus Tiefen rufe ich – biblische Gedichte‘ dem Text unter der Überschrift ‚Von dir zu dir‘ folgende Quellenangabe zu: „Aus: Salomo Ibn Gabirol, Reichskrone, frei aus dem Hebräischen nachgedichtet“. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um eine eigene, höchst poetische Entwicklung des zentralen Gedankens Von dir zu dir.

 

Schlicht und dicht

Der Aufbau des Gedichts wirkt zunächst recht schlicht: drei Strophen zu je vier Zeilen, ein dreihebiges jambisches Metrum mit Kreuzreim. Auffallend sind die zahlreichen kurzen, oft einsilbigen Worte, die nicht selten durch Apokopierungen entstehen (flieh, wend, geh, Ruh, Gnad). Dies bewirkt ein zügiges Voranschreiten des Textes und verleiht ihm eine besondere Intensität. Die markante Zeile von dir zu dir begegnet zudem in jeder der drei Strophen, die damit auch untereinander verkettet werden.

Während die erste Strophe das Du thematisiert, die zweite die Bewegung des Ichs beschreibt, stellt die dritte wiederum das Ziel dieser Bewegung vor Augen: das Du, welches in der letzten Zeile des Liedes nochmals durch Verdoppeln intensiviert wird. Mit diesem Aufbau zeichnet das Gedicht formal auch seinen Inhalt nach: die Flucht vor dem Du, die immer wieder bei diesem mündet.

Während das Ich unterwegs ist – es wird verbunden mit Verben der Bewegung (fliehen, wenden, drehen, gehen, schreiten) – bleibt das Du gegenwärtig und wird mit Substantiven des Gegensatzes belegt (Ursprung und münden, Ferne und Nähe, Weg und Ruhe, Gericht und Gnade). Das Du, das Ganz-Andere, wird damit als ambivalent und un(be)greifbar gekennzeichnet. Und das entspricht der realen Gotteserfahrung.

Dabei ist auffällig, dass dieser Gott nicht namentlich angeredet wird. Es ist stets nur vom Du die Rede. Bis heute wird der Gottesname im Judentum nicht ausgesprochen, sondern stets nur umschrieben.

Doch auch ohne den Namen ist das Gedicht zweifellos ein Gebet, und sicher eines von dichter Intimität. Damit hat es auch verbindenden Charakter: Während die Rede über Gott, all die theologischen Definitionen und Dogmen, die Religionen und Konfessionen spaltet, finden sie gleichzeitig oft recht ähnliche Worte im Gespräch mit ihm. Wie die Psalmen Juden und Christen verbinden, so vermag auch ein solches Gebet aus späterer Zeit die Glaubensgeschwister zur gemeinsamen Anrede Gottes zu ermuntern.

 

Suchen und Fragen

Wie mitten aus dem Zusammenhang beginnt das Gedicht mit Und suchst du … Das erinnert an eine urtümliche Erzählweise, wie sie Kinder verwenden: „Und dann sind wir … und dann habe ich“ Typisch ist solch verknüpfendes und auch im Hebräischen zu Beginn von Erzählungen oder Aussagen. Damit charakterisiert sich auch eine Denkweise: Fakten oder Worte kommen nicht isoliert zur Sprache, auch ergreift der Mensch nicht aus eigenem Vermögen die Initiative dazu, sondern sein Handeln und Sprechen ist stets Antwort, ist Beziehung.

Bereits auf den ersten Seiten der Bibel sucht Gott den Menschen: Wo bist du? fragt er Adam im Garten Eden (Gen 3,9), Wo ist dein Bruder Abel? fragt er Kain (Gen 4,9). Der erste Impuls auf solche Fragen nach Schuld und Versagen ist oft die Flucht: Adam versteckt sich, Kain wandert aus. Doch vor Gott zu fliehen ist schlechterdings unmöglich. Davon redet die Schrift auch andernorts: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe? spricht der HERR. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?“ (Jer 23,23f) Auch Psalm 139, der ebenfalls in der Liturgie des Versöhnungstages begegnet, weiß davon: „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten“ (Ps 139,7–10).

Die Schuld belastet das Gewissen, die drängenden Fragen holen den Schuldigen ein. Umkehr tut not. Die Flucht ist letztlich vergebens und mündet wieder in den Ausgangspunkt, bei ihm, dem Du. Zu Gott können wir zurückkehren wie in ein Haus, in dem wir erwartet werden. Die Flucht wird zur Zuflucht. Darum ist es auch verständlich, dass sich Schalom Ben-Chorin dagegen verwahrte, das Initium seines Gedichts in Fragst du nach meiner Sünde zu „verbessern“. Auch schafft der Beginn mit dem dreimaligen dunklen Vokal u eine besondere Stimmung.

Eine signifikante Änderung nimmt der Dichter selbst vor: Heißt es bei Salomo Ibn Gabirol noch flieh ich vor Dir zu Dir, greift Schalom Ben-Chorin diese Formulierung zwar noch in seiner ersten Strophe auf (im Erstdruck steht flieh ich vor dir – zu dir), wechselt aber in den Folgestrophen und in der Überschrift zu von dir zu dir. Im *GL 2 wie auch im *EG steht auch in der ersten Strophe von. Anders als im *EG (dort steht aufgehoben) hat das *GL 2 das originale aufgelöset am Ende der zweiten Strophe bewahrt.

 

Boßler und Ruppel

Für das *Liederbuch zum Deutschen Evangelischen Kirchentag 1967 in Hannover bat man etliche Musiker um eine Vertonung. Den Zuschlag erhielt die Melodie des Heidelberger Komponisten Kurt Boßler (1911–1976). Im selben Jahr legte auch Paul Ernst Ruppel (1913–2006) seine Melodie zum Text Ben-Chorins vor. Beide Fassungen wurden unmittelbar nach dem Kirchentag in der Sammlung *Der Frieden ist unter uns abgedruckt, in der fünfzehn neue Kirchenlieder versammelt waren. Im *EG findet sich heute die Boßler-Melodie. Und suchst du meine Sünde ist dort das letzte Lied der Rubrik „Beichte“.

Die Melodien Boßlers und Ruppels haben beide eine intensive Nähe zum Text, sind aber für den Gemeindegesang recht anspruchsvoll. Deshalb entschloss man sich für *GL 2 zu einer Neukomposition. Diese schuf der Regensburger Diözesanmusikdirektor Christian Dostal. Sie folgt dem Schema A-B-A‘-C, ist recht eingängig und mutet durch verminderte Tonschritte ein wenig orientalisch an; ein Anklang ans Judentum ist gesetzt, noch bevor man einen Blick auf den Textdichter wirft.

 

Schalom Ben-Chorin

Doch ist dieses Lied nicht von der Person des Dichters zu trennen. Schalom Ben-Chorin wurde als Fritz Rosenthal 1913 in München geboren. Er studierte Germanistik und vergleichende Religionswissenschaft. Von den Nationalsozialisten 1935 zur Emigration nach Palästina gezwungen, nahm er dort den Namen Schalom (= Friede, unter Bezugnahme auf seinen Vornamen Friedrich) Ben-Chorin (= Sohn der Freiheit) an. Er arbeitete als Journalist und gründete 1958 die erste jüdische Reformgemeinde Israels. Maßgeblich beeinflusst hat er die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag und war 1961 dort der einzige Gast aus Israel.

In die Worte eines aus Deutschland emigrierten Juden stimmen nun auch die Christen in ihren Gottesdiensten ein. Bezeichnenderweise immer dann, wenn es um die Frage nach der Schuld geht. Diese wird am jüdischen Versöhnungstag wie in der christlichen Beichte gestellt, doch stets ist die Antwort, mag sie auch den Umweg über Flucht und Umkehr nehmen, das Heimkommen zur Liebe Gottes.


publiziert in:
Die Lieder des Gotteslob. Geschichte–Liturgie–Kultur, Stuttgart 2017