Holz auf Jesu Schulter

Liedporträt

Klassisch und aktuell

Strophe für Strophe erklingt das Kyrie eleison als Refrain. Für ein Neues Geistliches Lied ist das eher ungewöhnlich. Doch schon bei einem zweiten Blick auf die melodische Struktur und die Tonalität entpuppt sich das Gebilde als ein Kunstwerk, das weit in die Tradition ausgreift. Die Melodie des Kyrie zitiert das gregorianische Kyrie Orbis factor (Nr. 121). Mit dieser Wendung erreicht sie ihren Höhepunkt – als ob sie den Kyrie-Ruf noch eindringlicher betonen wollte. Die äolische Tonart, die gänzlich auf einen in unserem Dur-/Moll-System üblichen Leitton verzichtet, hält die Melodie in der Schwebe.

Doch trotz dieses eher traditionell zu nennenden Befunds haben wir in Holz auf Jesu Schulter keineswegs ein historisierendes Lied vor uns. Es ist vielmehr aktuell, mit seiner Feststellung Denn die Erde klagt uns an, ja, sie jagt uns auf den Abgrund zu. Zugleich ist es klassisch, gerade was die biblischen Bilder und Anspielungen angeht.

 

Die deutsche Übertragung

Es ist das bleibende Verdienst von Jürgen Henkys (1929–2015), damals Dozent für Praktische Theologie am Ostberliner Sprachenkonvikt, zahlreiche Lieder aus dem niederländischen, skandinavischen und englischen Sprachraum für die deutsche Kirchenliedtradition fruchtbar gemacht zu haben. Anlass für die Beschäftigung mit der Übertragung der vorliegenden Dichtung von Willem Barnard war für Henkys die Teilnahme an der Tagung der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie 1975 in Groningen. Dort wurde das *Liedboek voor de kerken vorgestellt, das fünf niederländische protestantische Kirchen kurz zuvor eingeführt hatten. Schon auf der Heimreise beschäftigte Henkys die Frage, ob sich wohl einige darin enthaltene Lieder ins Deutsche übertragen ließen. Met de boom des levens gehörte dann zu den ersten Proben. Bereits im Advent 1976 erschien seine deutsche Übertragung in Amsterdam. Zwei Jahre später wurde sie ins *Beiheft zum EKG der DDR aufgenommen und erschien 1993 im *EG und 1998 im *RG der Schweiz. Seit 1990 verbreitete sich das Lied durch den *AK SINGLES auch in katholischen NGL-Kreisen und wurde als solches in etliche Anhänge zu Diözesanteilen des *GL1 aufgenommen. Die ursprüngliche Fassung von Vers 4,1 leben wie im Licht wurde im *Beiheft zum EKG der DDR (fälschlich) in leben wir im Licht geändert (was sich näher an Kol 1,12 anschließt). Die Publikation in den *Liedblättern des AK Singles vom Februar 1990, wo das Lied mit einem Chorsatz von Heinz Martin Lonquich erschien, ändert die betreffende Zeile in leben aus dem Licht. Bei dieser Textfassung bleiben auch *EG und alle nachfolgenden Publikationen.

 

Das niederländische Original

Der reformierte Pfarrer Willem Barnard (1920–2010), der auch als Dichter viel Anerkennung erfahren hat, hatte das ursprünglich siebenstrophige Lied 1963 unter dem Titel Van de goede vrucht in seiner Sammlung *De tale kanaäns veröffentlicht. Erst durch die Melodie des Belgiers Ignace de Sutter (1911–1988), die durch einen Wettbewerb zustande kam, wurde die ursprünglich vierte Strophe zum Kehrvers und damit vom Zentrum des Liedes zu seinem Leitmotiv.

Barnard dichtet sein Lied passgenau auf die Liturgie des letzten Sonntags des Kirchenjahres. Er bezeichnet es ausdrücklich als „Epistelgesang“ und spielt damit auf einen Abschnitt aus dem Kolosserbrief an, der nach alter Leseordnung am 24. Sonntag nach Pfingsten, dem letzten Sonntag des Kirchenjahres als Epistel vorgesehen war (Kol 1,9–14). Hierin wünscht der Apostel, die Gemeinde möge Frucht bringen an guten Werken. Der Text mündet in die ersten Zeilen des sogenannten Kolosser-Hymnus: „Dankt dem Vater mit Freude! Er hat euch fähig gemacht, Anteil zu haben am Los der Heiligen, die im Licht sind […] Durch Christus haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden“ (Kol 1,12.14). Doch auch die im Evangelium dieses Sonntags geschilderte Endzeitvision mit ihrem Gegensatz zwischen Himmel und Erde (Mt 24,15–35) und die Gedanken des Friedens aus dem Introitus (Jer 29,11) spielen thematisch in das Lied hinein.

 

Rahmen und Inhalt

Wäre ihm damals klar gewesen – so Jürgen Henkys im Rückblick – dass das Lied ob der zahlreichen Sprachspiele und -bilder für unübersetzbar gehalten wurde, wäre er wohl kaum ans Werk gegangen. So aber war es nicht zuletzt der klar strukturierte Aufbau des Liedes, der ihn faszinierte und zur Übertragung anregte: Erste und sechste Strophe bilden einen Rahmen, indem sie – im Niederländischen fast identisch, im Deutschen nur wenig variiert – die gleiche Aussage über das Kreuz als Baum des Lebens und auf Jesu Schulter machen. Mit dem Gedanken der irdischen Pilgerfahrt schließt die zweite Strophe an den Kreuzweg-Gedanken und an den Kehrvers (wohin wir gehn) an und eröffnet damit zwei Strophenpaare, die jeweils mit einem Aufruf zu Bitte (2) bzw. Lob (4) beginnen und ihn jeweils mit einem Blick auf die Situation der Erde, auf der wir leben, begründen (3 und 5).

Die beiden Rahmenstrophen verknüpfen das Kreuz Christi mit dem Baum des Lebens wie er im Paradies (Gen 2,9) oder der Apokalypse (Offb 2,7; 22,14) begegnet. Diese typologische Lesart des Alten und Neuen Testaments tritt auch in den berühmten Kreuzhymnen des Venantius Fortunatus (siehe Liedkommentar zu Der König siegt, sein Banner glänzt, Nr. 299) kunstvoll zu Tage. Schließlich hatte sie Auswirkungen auf die Legendenbildung, wonach das Kreuz Christi aus dem Holz des Paradiesesbaumes gefertigt sei.

Die im Kehrvers angelegte Anrufung des Kyrios kommt erst in der abschließenden Rahmenstrophe deutlich zur Sprache, wenn sie anders als die erste Strophe Christus mit o Herr direkt anspricht. Im übrigen Lied schließen sich die Singenden zu einem Wir zusammen, wenn es nicht wie in Strophe 5,4 um die persönliche Glaubensentscheidung geht. Dass die gemeinsam Singenden gemäß 1 Petr 2,11 nicht Teil dieser Welt sind, wird daran deutlich, dass in Strophe 3 und 5 die Erde das Subjekt ist. Die Sünden der Welt klagen uns unaufhörlich an, doch den Schuldschein hat Christus ausgelöscht (vgl. Kol 2,14) und mit seinem Tod am Kreuz alles vollbracht (Joh 19,30). Für dieses Ein-für-allemal wollen wir Gott loben, denn wir haben durch die Erlösungstat Christi bereits Anteil an diesem Leben im Licht, wie es der Kolosserhymnus formuliert. Entsprechend ist vom göttlichen Gericht auch nur in einem Paradoxon zu sprechen: Streng ist seine Güte, gnädig sein Gericht.

Die angemessene Antwort auf die Erlösungstat Christi ist im Glauben zu suchen. Auch wenn die Erde uns auf den Abgrund zujagt, wie einst die Jünger im Seesturm (Mt 14,22), soll der Zweifel nicht die Oberhand gewinnen. Wie Jesus Petrus aus dem Boot gerufen und zu sich übers Wasser hat gehen lassen, bittet der Kehrvers jeder Strophe darum Ruf uns!, damit wir uns nicht schicksalsergeben von der Welt beherrschen lassen und damit tot sind. Vielmehr bittet er Lass uns auferstehn! zum wirklichen Leben im Licht – schon in dieser Zeit unserer irdischen Fahrt. Auf diese Weise wird uns das Kreuz Christi zum Baum des Lebens.

 

Liturgischer Ort

Seit der Reform der römischen Leseordnung 1969 ist das Lied kein ‚Epistellied‘ mehr. Die Kolosser-Lesung, einst prominent am letzten Sonntag des Kirchenjahres platziert, ist nunmehr am Donnerstag der 22. Woche im Jahreskreis als Teil der Bahnlesung zu hören. Seinen ursprünglichen liturgischen Ort hatte das Lied also schon wenige Jahre nach seiner Entstehung verloren. Für die zunächst evangelische Rezeption des Liedes im deutschen Sprachraum wäre der Bezug zur katholischen Leseordnung ohnehin unerheblich gewesen. Von Anfang an wurde Holz auf Jesu Schulter daher anhand der Rahmenstrophen in die Passionszeit rubriziert. Aber das Lied greift viel weiter aus.

Ein ursprünglich niederländisch-reformiertes Lied fand über die (ost-)deutsche evangelische Kirche den Weg in den Stammteil des katholischen Einheitsgesangbuchs *Gotteslob 2ein schönes Beispiel Sprach- und Konfessionsgrenzen überschreitender Ökumene.

 

 

Literatur

Wim Kloppenburg: Holz auf Jesu Schulter, in: Liederkunde zum *EG, Heft 2 (2001), S. 59–61.

Ders.: Holz auf Jesu Schulter, in: Ökumenischer Liederkommentar, Lieferung 2 (2003).

Selbstauskunft Jürgen Henkys (27.04.2014).


publiziert in:
Die Lieder des Gotteslob. Geschichte–Liturgie–Kultur, Stuttgart 2017

vom 5.4.2020