Stille und Ruhe

Grunddimensionen von Liturgie

„Räume der Stille“ gibt es in Krankenhäusern oder auf Flughäfen. Menschen suchen – keineswegs nur in Grenzsituationen –  solche Räume, die durch ihr Design oder ihre typische Verwendung Ruhe ausstrahlen. Unsere Kirchen sind durchaus solche „Räume der Stille“ gerade für Menschen, die ihre Andacht nurmehr durch das Entzünden einer Kerze und ein Erinnerungsfoto ausdrücken können. Kirchen sind Andersorte im Trubel des Alltags. Und gerade durch ihre Fremdheit erscheinen sie ungemein attraktiv.

Doch was ist von der Stille übrig, wenn in diesen Räumen Gottesdienst gefeiert wird? Da folgen Lieder und Texte, Gesänge und Lesungen, Musik und Ansprachen oft nahtlos aufeinander. Dadurch sind weder die verschiedenen Sprechakte unterscheidbar, noch wird die Struktur des Gottesdienstes selbst wahrnehmbar. Noch schmerzlicher vermissen Teilnehmende Zeit zum persönlichen Gebet oder zur Meditation.

Immerhin ist es inzwischen weithin geübte Praxis, nach der Predigt eine Zeit der Stille zu halten und nicht umgehend das Glaubensbekenntnis anzuschließen. Auch nach der Kommunion ist eine längere Zeit gemeinsamen Schweigens durchaus üblich geworden.

 

Gemeinsames Schweigen

Die Allgemeine Einführung ins Messbuch gibt zahlreiche Hinweise zu Stille im Gottesdienst, ja sie widmet der Stille sogar ein eigenes Kapitel, in dem sie deren jeweiligen Sinn differenziert: Besinnung beim Schuldbekenntnis und nach den Gebetseinladungen, Meditation nach den Lesungen und der Homilie, Lobgebet nach der Kommunion (AEM 23). Die Grundordnung des römischen Messbuchs ergänzt den Artikel noch um die Stille vor dem Gottesdienst in Kirche und Sakristei, „damit alle sich auf den Vollzug der heiligen Handlung andächtig und in der gehörigen Weise vorbereiten“ (GORM 45). Ist damit schon alles zur Stille bei der Messfeier (und entsprechend bei anderen Gottesdiensten) gesagt?

Grundsätzlich gilt, dass Stille angeleitet sein muss, um wirklich gefüllt werden zu können. Damit ist keineswegs eine verbale Ansage gemeint, sondern vielmehr das sichtbare Vorbild der Leitung der gottesdienstlichen Versammlung. Wenn nach dem Aufruf „Lasset und beten“ dem Vorbeter anzusehen ist, dass er selbst für einen Augenblick ins persönliche Beten versinkt, überträgt sich diese Haltung inneren Betens auch auf die Umstehenden. Wenn nach der Homilie und der Kommunion die Liturgen still auf ihren Plätzen sitzen, breitet sich die Stille für Meditation bzw. Lobgebet fast automatisch in der Gottesdienstgemeinde aus. Die Stille vor dem Schuldbekenntnis wird i.d.R. verbal eingeleitet. Gleichwohl muss auch an dieser Stelle die Körpersprache sichtbar zur Besinnung führen.

Stille soll in der Liturgie als wohltuend und hilfreich erfahren werden können. Manche empfinden sie jedoch auch störend. Dann kommt Verlegenheit auf, die Gedanken schweifen ab. Zuweilen löst Stille sogar panikartige Ängste aus. Dass Stille im Gottesdienst manchmal als Leere oder Langeweile empfunden wird und daher Ungeduld und Unruhe nach sich zieht, liegt nicht unbedingt am Vorbild des Liturgen. Auch wenn es immer wieder zu beobachten ist, dass erst nach dem Lasset uns beten, das Buch aufgeschlagen, nach der Homilie das Manuskript geordnet wird oder während der Kommunionstille die Gefäße purifiziert werden.

Eine der häufigsten Erwartungen, die an einen Gottesdienst oder an liturgische Reformen gestellt werden, ist der Wunsch nach mehr Stille. Besteht die Attraktivität der Taizé-Gottesdienste nicht gerade in den langen Zeiten gemeinschaftlichen Schweigens? Mit diesem Wunsch können einerseits die beschriebenen Momente bewussten gemeinsamen Schweigens gemeint sein. Andererseits kann man darunter aber auch die Atmosphäre des gesamten Gottesdienstes verstehen.

 

Ruhe im Vollzug

Ganz entscheidend für einen ruhigen Vollzug des Gottesdienstes ist das Entschleunigen von Bewegung und Sprache. Schnelles Gehen oder Sprechen verursacht ein Gefühl von Hektik und Eile, das dem Bedürfnis der Teilnehmenden nach Ruhe jenseits des Alltagsstresses zuwiderläuft. Ebenso wichtig wie die grundsätzliche Entschleunigung ist das Wahrnehmen von Zäsuren, die die Liturgie gliedern. Die Mitfeiernden müssen erleben können, dass etwas abgeschlossen ist, bevor etwas Neues beginnt. Zumindest zwischen verschiedenen Sprechakten muss eine Trennschärfe bestehen. Ist beispielsweise der Übergang vom Tagesgebet zur Lesung durch die Amen-Akklamation, durch den Wechsel der Körperhaltung vom Stehen zum Sitzen und durch der Sprecherwechsel vom Leiter zur Lektorin scharf markiert, fehlt eine solche Zäsur zwischen Gabengebet und Präfation. Nicht selten wird daher auch deren Einleitungsdialog unmittelbar an das Amen des Gabengebets angeschlossen. Doch wäre an dieser Stelle eine deutliche Zäsur sinnvoll – ganz nebenbei wäre das eine gute Gelegenheit, bereits das Sanktuslied aufzuschlagen.

Der Wechsel der Körperhaltungen vor der Gabenbereitung und vor dem Vaterunser sollte durch eine angemessene Pause ermöglicht werden. Das Vorspiel zum Offertorium und die Einladung zum Vaterunser sollten erst beginnen, wenn die Gemeinde Platz genommen bzw. sich erhoben hat.

Nach den Lesungen sollte das Vorspiel zum Antwortgesang bzw. Halleluja nicht unmittelbar nach der Schlussformel Dank sei Gott beginnen. Will man an diesen Stellen nicht ohnehin eine regelrechte Stille halten, ist wenigstens ein Atemzug Pause zu empfehlen, dann erst das Betätigen des Liedanzeigers, dann erst der Beginn des Vorspiels.

Grundsätzlich sollten alle Beteiligten den jeweils vorangehenden liturgischen Akt erst zu Ende gehen lassen: Worte sollen erst verklungen sein, bevor Musik einsetzt, Musik soll erst verklungen sein, bevor jemand zu Sprechen beginnt. Ein Atemzug Zwischenzeit ist hier ein gutes Maß, das hilft, kein Gefühl der Eile aufkommen zu lassen, sondern für einen ruhigen Vollzug der Liturgie den Takt vorgibt.


publiziert in:
Gottesdienst (2015) 104–105